Veröffentlicht: 02.02.2025. Rubrik: Fantastisches
Materie 15 -Adrian-
Nacht.
Neben mir, Adrian, schlafend. Zum ersten Mal verbringe ich die Nacht nicht zu Hause. Nach dem heutigen Ereignis kann ich nicht allein schlafen.
Was ergibt noch Sinn?
Seine Welt ängstigt mich, führt mich in ungeahnte Höhen, macht das Unmögliche möglich, grenzenlos. Alles was ich über die Welt zu wissen glaube, ist in Frage gestellt. Aus der Anonymität der Masse, in die Welt der Schöpfer gezerrt. Was ist real, was Wille?
Alles ordnet sich neu. Ich fühle die Verbindung in die Vergangenheit und die sich ergebenden Möglichkeiten der Zukunft, in meine Hand gelegt.
Ein Monat. Kaum länger liegt unsere erst Begegnung zurück. Doch nichts hat meine Welt so grundlegend verändert, wie er. Mein Kopf fällt zur Seite, sucht in der Dunkelheit nach seiner Silhouette.
Seine Brust schöpft den Atem. Sein Straucheln, die Unterbrechung im Rhythmus. Meine Gedanken kehren zurück in die Gegenwart, zu ihm. Die Veränderung in meinem Bewusstsein wird gewahr, ahnt, dass Kommende. Ich schrecke auf! Mühsam kämpft er um den nächsten Atemzug, zittert, fängt an zu krampfen.
„Adrian?“
Ich richte mich auf. Keine Reaktion von ihm.
„Adrian?“
Mit beiden Händen drücke ich seine Schultern in das Betttuch. Kalter Schweiß bildet sich auf seiner Haut. Mein Unterbewusstsein hat längst den Ernst erkannt, während mein Verstand noch versucht zu verarbeiten, was meine Mutter so oft von ihrer Tätigkeit als Krankenschwester erzählte. Ohne mich bewusst daran zu erinnern, wähle ich die Notrufnummer, gebe Ort, Symptome, meinen Namen und Adrians Nachnamen durch. Damit der Notarzt weiß, wo er klingeln muss. Wie mechanisch ziehe ich Adrian auf die Seite, strecke seinen Kopf, versuche ihm das Atmen zu erleichtern. Alles erledigt sich, ohne das ich daran beteiligt bin. Der Verstand kann nicht akzeptieren. Wie ein verängstigtes Tier, zurückgezogen in das dunkelste Dickicht, um nicht begreifen zu müssen. Beruhigend streicht meine Hand über sein Haar, während mein Verstand seine Verzweiflung in meine Dunkelheit schreit. Als die Sirene des Notarztwagen vor dem Haus stoppt, wähle ich Katrins Handynummer.
*
Katrin hat mich mit in das Krankenhaus genommen. Beide sitzen wir vor dem OP und warten. Adrian ist seit fast zweieinhalb Stunden da drin.
„Jules, du solltest deine Eltern anrufen.“
„Ich kann nicht. Sie würden mich abholen.“
Stille.
Noch immer kann ich nicht erfassen, was passiert ist. Weder den Tag über, noch die Nacht. Den Himmel, die Hölle. Alles was ich erhoffe, ist ein weiterer Tag mit ihm.
„Danke.“
Ich wende mich Katrin zu.
„Das du da warst.“
In ihrem Gesicht sehe ich dieselbe Qual, die mich umklammert, die gleiche Hoffnung. Erkenne die namenlose Angst. Einem Impuls folgend umarme ich sie. Es dauert. Dann fühle ich, wie sie zaghaft die Umarmung erwidert. Eine Weile. Ihre Finger greifen in den Stoff meiner Jacke, pressen. Eine Zeitlang. Dann berührt ihre Stirn die Meine.
Beide vergießen wir Tränen. Die Ihren gelten der Hoffnung, die Meinen, dem Ungeheuer in meinem Unterbewusstsein, das sein Haupt erneut erhebt und mir die graue, hoffnungslose Welt ohne Adrian aus meinem Traum zeigt.
Synchronizität nannte Adrian das. Kassandras Fluch nenne ich es.
Als die Tür vom OP sich öffnet, bin ich es, deren Finger sich in ihre Jacke krallen…
*
Eine Woche. Ein viertel der Zeit, die ich mit Adrian verbrachte, nun ohne Ihn.
Zurück in die Schule. Es fällt mir nicht schwer. Warum sollte es? Dieses Wochenende wird Adrian beigesetzt. Auch das werde ich schaffen. Was könnte noch schlimmer sein, als Adrians Tod? Der Rest ist unwichtig.
Meine Wasserflasche halte ich mit beiden Händen fest. Den Blick fest auf die Stelle gerichtet, an der wir uns das erste Mal begegneten.
„Jules?“
Etwas weiter von der Schule entfernt, fing Adrian meinen Pullover. Ich muss lächeln, als ich an seine Erkenntnis denke, wessen Pullover er da auffing.
„Jules es tut mir so unendlich…“
Wo ist die Stelle, mit dem unebenen Pflasterstein? Ich stehe auf und gehe den Weg entlang, von der Schule weg.
Fortsetzung folgt...
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