Veröffentlicht: 26.01.2025. Rubrik: Fantastisches
Materie 11 -Indeterminismus – Die Unschärfe des Vorherbestimmten-
„Bitte warte!“
Er zögert, dreht sich aber nicht zu mir.
„Adrian, bitte sieh mich an.“
Als er sich umdreht und es tut, sinkt mir der Mut. Sein Gesicht zeigt eine Härte die mich bis ins Mark erschüttert. Niemals habe ich erwartet, das er eine so tiefe, abweisende Emotion ausdrücken kann. Nicht mir gegenüber.
„Warum ignorierst du mich? Was habe ich dir getan, dass mich in deinen Augen so abwertet?“
„Juliana, ich habe so oft versucht dich zu erreichen. Scheinbar hast du wieder nicht verstanden, was ich dir sagen wollte.“
„Dann hilf mir es zu verstehen!“
„Selbst wenn ich es tue, weiß ich nicht mehr, ob das ausreichen würde. Du möchtest weiter in deiner Welt leben und ich will dich nicht in eine Welt führen, für die du nicht bereit bist.“
Er schweigt einen Moment, während ich bemerke, wie Tränen meine Wange entlang rinnen. Leise fügt er hinzu:
„Dafür bist du mir zu wichtig.“
„Weißt du nicht, wie wichtig du mir geworden bist? Ich brauche dich. Adrian, bitte hilf mir.“
Er zögert einen Moment.
„Besser es jetzt zu beenden, als weiter hinauszuzögern. Es wäre für keinen von uns beiden gut.“
Verzweiflung überfällt mich. Das Tief, in das ich falle, ist beinahe so bodenlos, wie vor zwei Wochen.
Erneut dreht er sich von mir weg und geht einige Schritte, als ich ihn hinterher schreie:
„Löse dein Versprechen ein!“
Er erstarrt in seiner Bewegung, wendet sich um:
„Welches Versprechen?“
„Dein Geheimnis zu offenbaren, erinnerst du dich?“
„Juliana, das war ein Spiel!“
„Ja, war es. Es war aber trotzdem ein Versprechen. Ich fordere den Kuss von dir!“
„Tu das nicht.“
„Du lässt mir keine Wahl.“
„Es wird uns Beide verletzen.“
„Ich kann nicht anders, hilf mir.“
Langsam kommt er zu mir. Mit seiner rechten Hand unter meinem Kinn, hebt er meinen Kopf ein wenig. Sanft, zärtlich berühren seine Lippen die Meinen. Fest schließe ich meine Arme um ihn. Meine rechte Hand fährt in seinen Nacken, halte ihn, halte den Moment. Endlich merke ich, wie sich seine Arme auch um mich legen. Leise strömen die Tränen meine Wange hinab. Als sich unsere Lippen voneinander lösen, lege ich mein Kopf gegen seine Brust. Seine Hand fährt beruhigend über meine Haare, gibt mir Hoffnung. Auch er hält mich weiterhin umschlossen. Dieser Moment bedeutet mir die Welt.
*
Keiner wagt die ersten Worte.
Erneut bleiben wir dem Unterricht fern. Wenn das so weitergeht, befürchte ich, dass meine Eltern einen Brief von der Schule bekommen. Es kümmert mich nicht.
Wir schlendern entlang der Allee, bei den Händen haltend, schweigend.
Meine Sinne sind geschärft wie Messer. Jeden Augenblick sauge ich in mir auf, wie Kostbarkeiten. Die leichte Brise, die uns umstreicht, das Licht auf meiner Haut, der Gesang der Vögel von den Bäumen, seine gelegentlichen Blicke, die Wärme seiner Hand, ihren sanften Druck. Den ersehnten Halt.
Aber mein Verstand wälzt die Worte, die er sagte. In welche Welt will er mich führen, für die ich nicht bereit bin?
„Wirst du mir helfen?“
„Ich weiß nicht, ob ich dazu in der Lage bin.“
„Adrian, ich möchte wirklich verstehen.“
„Alles was ich tun kann, werde ich versuchen, versprochen. Aber dir muss bewusst sein, das es keinen sanften Übergang gibt. Das habe ich versucht, es funktioniert nicht. Was ich dir zu zeigen habe, wird alles was du über die Welt weißt, erschüttern. Danach gibt es keinen Weg zurück. Wissen kann man nicht mehr ungeschehen machen, glaub mir.“
„Wie immer erschreckst du mich mit deinen Andeutungen und tief in mir, beginne ich zu ahnen, was das bedeutet.“
Während ich stehenbleibe, wende ich mich ihm zu.
„In den letzten Tagen hat sich so viel ereignet. Dinge die ich nicht verstehe und die mich erschrecken. Meine Entscheidung steht längst fest.“
Er sieht mir fest in die Augen.
„Wir werden sehen.“
Seinem Blick standhaltend, trete ich an ihn heran.
„Ich kann das!“
„Das war nie die Frage. Aber willst du es? Willst du es wirklich?“
Aus tiefster Überzeug antworte ich ihm:
„Ja!“
*
Seit zwei Wochen sind wir das erste Mal wieder zusammen in Alinas Café. Ich habe es nicht bis nach der Schule ausgehalten und Adrian überredet, mit mir hierher zu kommen. Nun sitzen wir uns gegenüber und ich weiß nicht wie ich beginnen soll.
„Vielleicht willst du mir zunächst erzählen, was dich so erschreckt hat?“
„Nach unserer Trennung ging es mir nicht sehr gut.“
Verzweifelt suche ich nach den richtigen Worten, damit es nicht so kindisch klingt.
„Ich habe geträumt. Keine schönen Träume.“
In dem konzentrierten Blick Adrians erkenne ich seine ungeteilte Aufmerksamkeit. Wie habe ich das vermisst.
„Was mich erschreckt hat, ist ihr Zusammenhang mit der Wirklichkeit.“
Seine Augenbrauen ziehen sich zusammen und auf seiner Stirn bilden sich Falten. Sein Blick wird fast stechend.
„Bitte berichte mir von den Trauminhalt und den Ereignissen.“
„In dem ersten Traum fahre ich mit Thorsten in einem schnellen Auto. Ich schlucke Tabletten und berausche mich an der Geschwindigkeit und den Drogen. Dann zieht ein Kleinwagen auf unsere Spur. Du hast sicher gehört, was mit Thorsten geschehen ist?“
„Ja, habe ich. Was geschieht in dem zweiten Traum?“
„Da bin ich am Meer. Die Einsamkeit die ich fühle, ist fast schmerzhaft. Ich habe mich mit meiner Familie zerstritten und bin abgehauen. Die Leere und Bedeutungslosigkeit in mir, haben mich fast gebrochen. Dann am Nachmittag kam Didi zu mir und versuchte mich auf ihre Art zu trösten. Ich nahm ihr das übel und schmiss sie aus meinem Zimmer. Als meine Mom von der Arbeit kam, ging der Streit weiter und wir schrien uns an.“
Seinen Blick kann ich nicht standhalten und schaue auf meine verschränkten Finger in meinem Schoß.
„Noch nie habe ich mich so verloren gefühlt. So einsam.“
Er greift über den Tisch, nach meinem Kinn, hebt meinen Kopf. Verzweifelt halte ich die Tränen zurück, die sich mit der Erinnerung versuchen ihre Bahn zu brechen. Als seine Hand von meinem Kinn die linke Wange entlang fährt, gebe ich den Kampf auf.
Meine Augen schließend, lege ich meine Wange in seine Hand und halte sie fest gegen meine Wange gepresst. Verweile. Lange. Endlich versiegt der Strom.
„Was hat das zu bedeuten, Adrian? Werde ich verrückt, sehe ich Gespenster?“
„Nein, tust du nicht.“
„Was?“
„Nein, du wirst nicht verrückt und siehst auch keine Gespenster.“
„Du...du kennst das?“
Er nickt.
„Ja.“
Er zieht seine Hand zurück, nimmt einen Schluck aus seiner Tasse.
„Carl Jung, ein Schüler Freuds, hat das Phänomen ziemlich gut beschrieben. Bekannt war es jedoch schon im alten China, durch das I Ging.“
Er mustert mich eindringlich, bevor er fortfährt:
„Es beschreibt einen nicht kausalen Zusammenhang zweier Ereignisse. Zum einen deine Träume, zum anderen die realen Geschehnisse, danach. Das nennt sich Synchronizität.“
„Ich...ich glaube das nicht!“
„Jules, ich hatte dich gewarnt. Das ist erst der Anfang.“
„Es kommt noch mehr? Das macht mir Angst. Das ist, als würde man mit einen Witch Board spielen und plötzlich Antworten bekommen. Kannst du das auch?“
„Es ist beängstigend, ja. Doch es ist Wissenschaft. Eine Seite der Wissenschaft die man uns nicht lehrt. Und nein, das kann ich nicht. Meine Fähigkeit liegt woanders.“
Ich bekomme eine Gänsehaut. Wie bei einem kleinen Kind ergreift eine unbestimmte Angst Besitz von mir.
„Was kannst du?“
„Ich erkenne Muster in Systemen.“
„Was für Muster?“
„Am besten kann man es vergleichen, als würde ich einen roten Faden in einem Heuhaufen sehen. Die Systeme die ich beurteilen kann, sind Strategien, politische Winkelzüge, Aussagen.“
„Aussagen?“
„Ja, wenn jemand eine Aussage zu einem Thema macht. Ist die Aussage ehrlich, wird etwas verheimlicht oder lügt die Person.“
„Du bist so ein Profiler!“
„Nein! Meine Fähigkeit beruht ausschließlich auf meiner Intuition, nicht auf Strategien. Wie bei dir. Deshalb habe ich dein Potential auch erkannt.“
„Aber ich habe doch nur geträumt!“
„Jules, was glaubst du, wie viel von deinem Leben steuerst du wirklich? Maximal 5% deiner Aktivitäten kontrollierst du bewusst. 95% werden von dem mächtigsten Teil deines Selbst kontrolliert. Dem Unterbewussten. Dein Herzschlag, deine Atmung, Muskelkontraktionen, bis hin zu einem einfachen Nieser. Selbst deine Emotionen. Alles ohne deine bewusste Kontrolle.“
„Aber ich habe nur geträumt.“
„Du speicherst alle Informationen die du in deinem Leben siehst, hörst, fühlst und schmeckst in deinem, hm, Gedächtnis. Nur weil du dich nicht erinnern kannst, heißt das nicht, dass es nicht mehr da ist. Unter Hypnose bist du in der Lage erstaunliche Details einer Situation zu schildern. Ich vermute, das deine Träume eine Kombination von Ereignissen sind, die aus Daten von deinem Unterbewusstsein zusammengestellt, geschlussfolgert und an dich weitergegeben werden.“
„Intuition?“
„Ja, fange an, ihr zu vertrauen. Es sind nur zwei Synchronizitäten gewesen, aber kausal sehr nahe an der Realität. Nicht nur ein Fingerzeig, nein ein plastisches Gesamtbild, deine Begabung eben.“
„Wird das so weitergehen?“
„Es beginnt gerade erst. Dadurch, dass du dich damit beschäftigst, legst du dein Augenmerk darauf. Energie folgt der Aufmerksamkeit.“
Fortsetzung folgt...