Veröffentlicht: 23.01.2025. Rubrik: Fantastisches
Materie 9 -Synchronizität– „Oben wie unten...“
260 Km/h.
Thore ist ein Adrenalin-Junkie und es gefällt mir. Ein Seitenblick zu seinem Profil zeigt mir, mit welcher Konzentration er den Wagen in der Spur hält.
280Km/h.
Als ich wieder durch die Windschutzscheibe schaue, huschen die Fahrzeuge rechts an mir vorbei. Ein leichtes Lächeln gleitet über mein Gesicht. Gleich wird er runter schalten, der Motor wird aufbrüllen und mit einem weiteren Ruck wird das Fahrzeug nach vorne getrieben. Das Kribbeln im Bauch wird zunehmen und mich vergessen machen. Die Beschleunigung lässt nach, gleich ist es soweit. Aus der Innentasche meiner Jacke nehme ich das Tütchen mit den Tabletten. Gleich. Als ich die Tablette in meinem Mund schmecke, schaltet Thore. Der Drehzahlmesser spring in den roten Bereich, der Tacho klettert auf 305 Km/h. Ich lächle. Das Kribbeln ist da, verstärkt von der Tablette und dem roten Kleinwagen vor uns, der auf die Überholspur zieht.
*
Es ist warm. Die Sonne ist noch nicht aufgegangen, doch die Dämmerung bringt das erste Licht. Vermutlich wird es wieder über 35° Grad. Die Wellen brechen sich am Strand. Widerwillig richte ich mich auf meiner Decke auf. Noch gleicht das Meer einer grauen, bleiernen Masse, doch in wenigen Stunden wird aus der bedrohlichen Masse ein kristallklarer Traum. Menschen werden den Strand in Besitz nehmen und irgendwie werde ich einen weiteren Tag überleben. Meistens ergibt sich eine Gelegenheit an einige Münzen zu gelangen. Dennoch fürchte ich den Tag, an dem ich die letzte Grenze überschreite, mir keine Möglichkeit mehr bleibt. Meine Gedanken kehren zu dem Augenblick zurück, als ich mit meiner Familie brach. Als alles eskalierte und ich mit nur einer Handvoll Habseligkeiten abhaute. Seitdem habe ich mich nicht mehr gemeldet, treibe durch das Leben, durch die Welt. Ich bemerke, wie Tränen über meine Wange rinnen. Die Dämmerung ist immer die schwerste Zeit.
*
Erschrocken über die Intensität der Träume, fahre ich auf. 6:06 Uhr! Mit dem Blick auf die Uhr stelle ich fest, das ich gerade mal 3 Stunden geschlafen habe. Meine Mutter kann ich hören wie sie das Bad verlässt. Sie hat Frühschicht, wahrscheinlich hat sie gegessen und gerade die Zähne geputzt. Als nächstes wird sie die Jacke anziehen und das Haus verlassen.
„Mom?“
Rufe ich und springe aus dem Bett. Die Tür wird geöffnet und der Kopf meiner Mutter erscheint in dem Türspalt.
„Was ist denn? Sei nicht so laut du weckst noch Didi!“
Die Tür aufreißend, nehme ich sie in die Arme. Der dunkle Schatten der Alpträume schnürt mir die Kehle zu. Nie würde ich mit meiner Familie brechen, nie!
„Oh Mom.“
Gestern Abend habe ich mich in den späten Schlaf geweint und heute Morgen liegt mit den dunklen Träumen der Schatten der letzten Nacht auf meinem Gemüt.
„Kind, was ist den, Alpträume?“
Heftig nicke ich mit den Kopf und schluchze auf. Bestimmt hat sie noch keine Ahnung, was mich in den letzten Tagen bewegte. Das Hochgefühl und der tiefe Fall. Didi wird ihr nichts verraten haben, dazu kenne ich meine kleine Schwester zu gut.
„Soll ich dir was Warmes zu trinken machen?“
Wieder nicke ich heftig.
„Schokolade!“
Meine Mutter schiebt mich von sich, mit beiden Händen fest an den Schultern fassend, blickt mir ins Gesicht.
„So schlimm?“
Stumm nicke ich wieder, wage nicht sie anzublicken. Sie sagt nichts weiter, mustert nur mein gerötetes, verquollenes Gesicht. Dann führt sie mich in die Küche, setzt mich auf einen Küchenstuhl. Sie zieht ihre Jacke aus, setzt einen Topf auf den Herd, den sie mit Milch füllt. Während die Herdplatte die Milch erwärmt, holt sie meine Lieblingstasse aus dem Schrank und füllt zwei Löffel Kakao in die Tasse. Wenige Momente später steigt der Dampf auf und sie füllt die warme Milch in die Tasse, rührt um. Als sie die Tasse vor mir abstellt, setzt sie sich auf dem Küchenstuhl neben mir. Mit beiden Händen führe ich die Tasse an den Mund und nehme einen tiefen Schluck. Der Kakao hat genau die richtige Temperatur. Warm genug um mich ein wenig zu lösen, kühl genug um ihn mit tiefen Zügen zu trinken. Meine Mutter schaut mir geduldig zu. Sie weiß längst, dass nicht die Alpträume der Grund meines Gemütszustandes sind. So sehr ich mich auch versuche dagegen zu verschließen, schluchze ich erneut auf. Die Tasse abstellend, werfe ich mich erneut in ihre Arme. Sie streicht mir über den Kopf.
„Oh je.“
*
Wütend und verletzt schaue ich zu Didi!
„Deine Ratschläge kannst du dir sparen! Das ist das Letzte was ich jetzt brauche.“
„Jules ich meine doch nur, das es vielleicht besser ist, dass ihr euch nicht mehr trefft. Adrian ist ...anders. Er hat mir Angst gemacht.“
Didi meint es bestimmt gut, eben ihre Art mich zu trösten, aber mit nur 5 Stunden Schlaf, bin ich einfach nicht die beste Gesellschaft. Mom hat mich zuhause gelassen, wofür ich ihr dankbar bin. Genauso wie für die Zeit, die sie sich genommen hat. Aber in jedem Augenblick vermisse ich die Momente mit ihm. Nein, sei ehrlich, ich vermisse ihn. Alles.
„Tina meint das auch, sie…“
„Tina ist eins der Probleme! Sie und Jochen haben Adrian von Anfang an geschnitten und was Jochen dann getan hat, ist nicht zu verzeihen! Also komm mir bloß nicht mit einen von den Beiden!“
„Aber Jules, du musst doch zugeben, dass Adrian merkwürdig ist, oder etwa nicht?“
„Raus! Verschwinde aus meinem Zimmer! Ich will dich nicht mehr sehen. RAUS!“
Der Damm bricht und ungehemmt brechen die Tränen aus mir heraus. Im Augenblick kann ich Didi nicht ertragen. Keinen aus meinen Bekanntenkreis oder aus meiner Familie. Didi ist irritiert, verletzt. Doch meine Wunden sind tiefer und wiegen mehr. Genau in diesem Augenblick wäre ich bereit, alles hinter mir zu lassen und...
„RAUS!“
Didi geht mit hängende Schultern aus dem Zimmer und bevor sie die Tür hinter sich zuzieht, schaut sie mir erneut ins Gesicht. Was sie dort sieht, unterbindet jede weitere Erwiderung von ihr.
Die letzten Stunden sind ein Auf und Ab, zwischen der vagen Aussicht das es sich irgendwie wieder richtet und der schmerzlichen Erkenntnis der Situation.
Die Berg und Talfahrten in denen ich mich seit meinem Erwachen befinde, wurde von Didis kläglichen Versuch mich zu trösten, in eine Art endgültiger Hoffnungslosigkeit verwandelt.
Was ist Adrian soviel wichtiger, als unsere Beziehung? Bedeute ich ihm nicht genug, um über meine vermeintliche Schwäche hinwegzusehen oder wenigstens meinen Standpunkt zu akzeptieren? Ich bin einfach nicht bereit, hinter jeder Ungereimtheit eine Verschwörung zu sehen. Es gibt meistens einen einfachen, plausiblen Grund, den es zu finden gilt.
Mir will nicht in den Kopf, dass Adrian so fürsorglich und aufmerksam er mir gegenüber war, einfach aufgibt und mich fallen lässt. Nicht wenigstens versucht… Waren all seine Worte, seine Zuneigung nur leer, ohne Bedeutung?
Ich verstehe es einfach nicht.
Als die Haustür geht, ist meine Stimmung auf dem Tiefpunkt. Meine Tür wird geöffnet und Mom tritt in mein Zimmer.
„Wie geht es dir, ist es besser? Hast du geschlafen?“
Zur Bestätigung nicke ich. Nach Konversation steht mir gerade nicht der Sinn. Didi schaut verstohlen hinter dem Rücken meiner Mutter zu mir hin. Wut packt mich. Meine Frustration braucht einen Blitzableiter und der steht hinter meiner Mutter!
„Edith, verschwinde aus meinem Zimmer! Tritt mir nicht mehr unter die Augen!“
„Juliana, das geht zu weit! Ich verstehe dich, aber deine Schwester hat nichts damit zu tun!“
„Gar nichts verstehst du! Du hast keine Ahnung, was sie gerade abgelassen hat!“
„Vorsicht, du vergreifst dich im Ton!“
Ich springe aus dem Bett, versuche die Tür zuzudrücken, in der meine Mutter und Didi stehen.
„Lasst mich doch alle in Ruhe! RAUS!“
Meinen ganzen Frust, meine Wut und Verzweiflung schreie ich mit dem letzten Wort meiner Mutter ins Gesicht. Eine schallende Ohrfeige ist ihre Antwort. Noch nie wurde ich geschlagen! Mein ganzer Körper zittert. Nur wenige Zentimeter trennen mein Gesicht von Ihrem. Ich sehe ihre Zähne mahlen, die gespannten Muskeln ihres Kiefers. Trotzig blicke ich in ihre Augen, warte auf den nächsten Schlag. Dann sinken ihre Schultern herab und sie gibt die Tür frei.
„Du hast Hausarrest. Scher dich in dein Zimmer.“
Fortsezung folgt...