Veröffentlicht: 15.01.2025. Rubrik: Fantastisches
Materie 6. -Eine andere Welt-
„Bereit?“
Der Atemzug den ich tue, arbeitet gegen eine eiserne Klammer um meinem Brustkorb. Als ich den Mut aufbringe ihm in die Augen zu schauen, nicke ich mit einer Bestimmtheit, die ich nicht fühle.
„Ja, bereit. Lass uns hineingehen.“
Adrian lächelt mir aufmunternd zu, greift in seine Hosentasche und holt den Haustürschlüssel hervor. Wir gehen durch die linke Haustür, die Treppe in den 3. Stock. Den Weg nach oben begleiten mich Gedanken, die mir die Absurdität der Situation vor Augen führen. Vor zwei Wochen kannte ich diesen jungen Mann noch gar nicht. Nun folge ich ihm, in seine Wohnung. Und doch, wie häufig geschieht genau dies, in diesem Augenblick, bei 5 Millionen Menschen im Ruhrgebiet?
Adrian schließt die Wohnungstür auf, wirft den Schlüssel in eine Schale auf die Anrichte vor der Garderobe, im Hausflur. Langsam folge ich ihm in die Wohnung, lasse meinen Blick über den Flur, durch die geöffnete Tür in das Wohnzimmer wandern. Adrian schiebt die Haustür hinter mir ins Schloss. Durch die erste Tür, rechts neben mir, höre ich Schritte. Als die Klinke heruntergedrückt und die Tür geöffnet wird, halte ich kurz die Luft an. Das Gesicht der Mittvierzigerin, das mich offenherzig anlächelt, lässt mich all die Bedenken, die mich bis hierher begleitet haben vergessen.
„Juliana, ich bin Katrin. Ich freue mich, dich kennen zu lernen.“
Was bleibt mir zu sagen?
„Ich freue mich auch. Katrin?“
„Lass uns in das Wohnzimmer gehen.“
Sie legt ihren rechten Arm um meine Schulter und als wir den Flur entlanggehen, an dessen Ende es in das Wohnzimmer geht, fühle ich mich willkommen. Als wir an dem dunklem Holztisch, im linken Teil des mittelgroßen Zimmer Platz nehmen, sitzt Adrian mir gegenüber und Katrin zu meiner Rechten. Auf dem Tisch stehen eine Flasche Wasser, eine Weinflasche und Karaffe Orangensaft. Während ich die Eindrücke des Zimmer aufnehme, sagen weder Adrian noch Katrin etwas. Ein gutes Stück des Zimmers ist mit einem hellen Teppich ausgelegt. Um den Teppich herum sind die dunkel gebeizten Bohlen des Holzfußbodens zu sehen. Hinter Katrin verdeckt ein Regal, fast vollständig mit Büchern gefüllt, die Wand. Bevor ich mich gesetzt habe, konnte ich den Schrank sehen, der jetzt in meinem Rücken neben der Tür, bis an die Decke ragt. Adrian sitzt im Gegenlicht eines großen Fensters. Zu meiner Linken steht ein langes Sideboard aus dunklem Holz an der Wand, die wie der Rest des Zimmers mit einer orangefarbenen Tapete im hellen Ton tapeziert ist. Etwas an dem Zimmer wirkt befremdlich, ich komme jedoch nicht drauf.
„Weißt du Juliana, das ich sehr neugierig darauf war, dich kennenzulernen?“
„Adrian deutete so etwas an.“
Katrin legt ihre linke auf meine rechte Hand.
„Du bist das erste Mädchen, das Adrian mit nach Hause bringt.“
Eine kurze Pause, in der sie mich stirnrunzelnd anblickt, als wenn ihr die Bedeutung erst jetzt klar wird.
„Wenn ich es recht bedenke, bist Du die erste Bekanntschaft von Adrian überhaupt hier.“
Zum zweiten Mal am heutigen Tag, bemerke ich wie mein Hals trocken wird.
„Darf ich bitte ein Glas Wasser haben?“
„Entschuldige, das ich dich so überfalle, natürlich. Adrian würdest du? Ich nehme den Wein, bitte.“
Adrian steht auf und holt aus dem Schrank hinter mir Gläser. Ein Wasserglas stellt er vor mich und ein weiteres an seinem Platz, dass Weinglas vor seiner Mutter. Nachdem er alle Gläser gefüllt hat, setzt er sich wieder an seinem Platz. All das geschieht, ohne das einer von uns auch nur ein Wort gesagt hat. Die Situation ist surreal. Das ist nicht das erste mal, das ich bei Eltern eines Freundes zu Besuch bin. Doch hier habe ich das Gefühl in einem Traum gefangen zu sein. Es ist so anders als ich es gewohnt bin. Alles hier in diesem Raum scheint einen Zweck zu erfüllen. Kein Gegenstand macht den Eindruck unnütz, nein zwecklos zu sein. Selbst seine Bewohner sind Bestandteil, dazu die beherrschte Atmosphäre. Nicht angespannt, nicht gekünstelt. Es ist wie mit dem Raum, etwas ist anders und ich kann es nicht fassen. Ich nehme einen tiefen Schluck aus meinem Glas. Für einen Moment komme ich mir vor, wie ein Fremdkörper.
Adrian blickt zu seiner Mutter, die ihr Glas abstellt.
„Juliana, hast du schon Hunger?“
„Nein, noch nicht.“
Sag, welches sind denn deine Lieblingsfächer in der Schule? Begeisterst du dich auch so für Mathematik und Physik wie Adrian?“
„Ich glaube niemand den ich kenne, bringt die gleiche Begeisterung wie Adrian für diese Fächer auf.“
Ich versuche ein Lächeln. Adrian schmunzelt, blickt zu seiner Mutter, die diese Offensichtlichkeit mit einem ungezwungenen, hellen Lachen quittiert.
„Meine Interessen sind mehr Sprachen und Kunst.“
„Malst du denn?“
„Manchmal. Mode interessiert mich sehr. Die Kombination von Kleidungsstücken.“
„Ja, das ist mir an dir sofort aufgefallen, dein Geschmack was Kleidung angeht. Dezent aber schick.“
„Katrin, wir sollten jetzt den Tisch decken.“
Wieder der Blick untereinander. Katrin nimmt noch einen Schluck vom Weinglas und stellt es dann ab.
„Du hast recht Adrian, nicht dass das Essen zerkocht.“
Dann komme ich plötzlich darauf, was hier so befremdlich ist. Was mich irritiert. Es ist die Offenheit, mit der die Beiden umgehen. Die kleinen Gesten, mit denen sie kommunizieren. Wie ein eingespieltes Team. Keine Regelverletzung, kein Murren für Aufforderungen, keine überzogenen Forderungen. Jeder kennt den Freiraum oder die Aufgabe des Anderen! Wenn ich an unsere Familie denke, die kleinen Reibereien, die Grabenkämpfe um die alltäglichen Aufgaben, überkommt mich eine Mischung aus Scham und Neid.
Als sich Katrin und Adrian erheben, stehe ich ebenfalls auf.
“Darf ich helfen?“
Katrin greift erneut meine Hand, lächelt mir aufmunternd zu.
„Gerne.“
Mit diesem kleinen Zugeständnis, wird mir bewusst, wie sich mein Status eines Gastes, plötzlich zu einem Teil ihrer Gemeinschaft ändert.
Wir gehen in die Küche, gleich die erste Tür links. Sie liegt vor dem Raum aus der Katrin kam, vermutlich ihr Zimmer. Die beiden Türen zu meiner Rechten müssen demnach das Bad und Adrians Zimmer sein.
„Juliana, würdest du zusammen mit Adrian das Geschirr an den Tisch bringen?“
„Jules. Meine Familie und meine Freunde rufen mich Jules.“
Katrin dreht sich zu mir um und ihr Gesicht strahlt durch ihr Lächeln.
„Jules,“ widerholt sie, „das klingt wunderschön.“
Adrian gibt mir 3 Teller und Salatschalen in die Hand. Als ich zu ihm blicke, sehe ich eine ungewohnte Entspannung in seinem Gesicht. Er wirkt dadurch weicher, fast verletzlich. Meist kenne ich ihn nur mit einem konzentrierten, verschlossenen Ausdruck. Wir bringen die Gedecke an den Wohnzimmertisch.
Als mein Blick erneut durch das Wohnzimmer streift, wird mir auch klar was mich
so befremdet.
„Adrian, besitzt ihr gar keinen Fernseher?“
„Jules, du hast heute eine Freundin gewonnen.“
Auch er strahlt mich an. Mir wird bewusst wie viel ihm dieses Treffen bedeuten muss. Beiden.
*
Als ich sehr viel später in meinem Bett liege, denke ich noch eine ganze Weile an die Geschehnisse des Tages. Besonders eingeprägt hat sich der Besuch bei Katrin, Adrian Mutter. Im Laufe des Abends habe ich erfahren, das Adrian seinen Vater im Säuglingsalter verloren hat. Katrin ist dadurch gezwungen, für ihr beider Lebensunterhalt zu arbeiten. Den Verlust der wertvollen Zeit mit ihrem Sohn, kann ich der Traurigkeit entnehmen, mit der sie davon erzählte.
Wie nach einer besonders schweren Klausur, fühle ich mich erschöpft und leer. Zwar habe ich alle Lösungen gekannt, doch die Aufgaben haben mir höchste Konzentration abverlangt. Ist das der Grund für Adrians wachem Wesen? In dieser anspruchsvollen Umgebung aufgewachsen zu sein? Oder ist er vielleicht sogar selbst der Grund?
Katrins Akzeptanz erfüllt mich ein wenig mit Stolz. Mir wird auch bewusst, welche Besonderheit mir durch Adrians Zuneigung zuteil wird. Meine Gefühle schwanken, dem nicht gerecht zu werden und aus der Masse zu etwas Einzigartigem in seiner Welt erhoben zu werden. All das ist neu für mich. In mir regt sich das Gefühl jemandem wichtig zu sein. Teil von etwas zu sein, gebraucht zu werden.
Leise und glücklich gleite ich in den Schlaf.
Nachts werde ich halt emotional.
Fortsetzung folgt...