Veröffentlicht: 12.03.2022. Rubrik: Total Verrücktes
Frau Essig ist sauer, Frau Gabel auch!
Achtet mal darauf, was die Gegenstände auf eurem Esstisch bewegt!
Vielleicht geht es dort genauso oder ähnlich zu, wie bei diesem Gala-Dinner:
Frau Essig in der edlen Flasche aus Kristallglas stand auf dem feierlich gedeckten Tisch und starrte säuerlich in die Runde. Keiner der Gäste hatte wahrgenommen, dass sie es war, die dem welken grünen Salat dort in der großen Schüssel seinen einzigartigen Geschmack verliehen hatte. Denn alle lobten nur das leckere Öl, das zum Anmachen des Salats verwendet wurde. Herr Öl, der in einer ebensolchen Flasche wie der ihren neben ihr stand, grinste siegesgewiss und voller Stolz. Es war so ungerecht, dass seine fettige Konsistenz den Gästen so gut schmeckte, während sie als zu sauer bezeichnet wurde. Es war wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung, je öfter die Leute sie als zu sauer empfanden, desto saurer wurde sie.
Sie konnte das fettige Grinsen von Herrn Öl einfach nicht mehr ertragen. Dabei hatten sie sich anfangs sehr gut verstanden. Sie war glücklich gewesen, in einer so tollen Kristallflasche wohnen zu dürfen. Mit einem netten Nachbarn, dessen Flasche der ihren glich wie ein Reihenhaus dem anderen in einer Neubausiedlung. Alle dachten, sie und Herr Öl seien ein Paar. Und tatsächlich wurden sie immer in einem Atemzug genannt: Essig und Öl. Damals war sie sogar ein bisschen verknallt gewesen in Herrn Öl.
Frau Essig war noch in Gedanken versunken, da hörte sie Frau Gabel am Kopfende des Tisches leise rufen: „Frau Essig, seien Sie doch nicht so sauer! Eigentlich kann es Ihnen doch egal sein, ob die Gäste Sie mögen oder nicht….“ Frau Gabel verstummte, denn jetzt servierte die Hausfrau das Fleisch, einen Rinderbraten in gleichmäßig dicke Scheiben geschnitten.
Der Gast hob Frau Gabel und schob sie sogleich in den Rindsbraten auf seinem Teller. Mit Herrn Messer versuchte er nun, ein mundgerechtes Stück abzuschneiden. Doch dieses Fleisch erwies sich als sehr zäh und widerstandsfähig. Der hungrige Gast säbelte drauflos und Herr Messer säbelte eifrig mit. Er strengte sich so an, dass seine Silberlegierung dunkel anlief.
Dabei wurde Frau Gabel so fest ins Fleisch gedrückt, dass auch sie dunkel anlief vor Schmerzen. Sie flehte das Messer an, mit dem Säbeln aufzuhören, aber dieses war wie von Sinnen. „Ich muss es schaffen,“ rief es erregt, „ich lasse mir doch meinen Schneid nicht abkaufen.“
Die Messer der anderen Gäste hatten den Kampf bereits aufgegeben, sie waren einfach nicht scharf genug. Und den Gästen selbst war wohl der Appetit vergangen. Sie hatten einfach keine Lust mehr, das zähe Fleisch zu kauen. Der Gastgeberin war das sichtlich peinlich.
Frau Gabel beneidete ihre Genossinnen, die sich auf ihren Tellern eine Atempause gönnen durften, während sie selbst dem Willen ihres fanatischen Partners gnadenlos ausgesetzt war. Doch es war nicht das verrückte Messer allein, auch der Gast, der sie beide als Besteck benutzte, war unerbittlich. Musste der hungrig sein!
Es gab noch ein weiteres Pärchen auf dem Tisch, ebenfalls in kleinen gleichartigen Glasbehältern: Frau Salz und Herr Pfeffer, die das Treiben des Bestecks bisher schweigend beobachtet hatten. Doch jetzt, wo sich die Gabel vor Schmerzen fast krümmte, wollte die gutmütige Frau Salz helfen. Sie streute etwas von sich auf die Zinken der Gabel. Gut gemeint, aber nicht wirklich hilfreich, Salz in die Wunde zu streuen. Frau Gabel schluchzte leise vor sich hin.
Dann mischte sich Herr Pfeffer ein: „Hi Messer, hör auf zu wüten! Niemand bezweifelt, dass du scharf bist. Aber es lohnt sich nicht bei diesem Rinderbraten. Ich bin auch scharf, ich werde mich aber nicht vergeuden, um dem zähen Fleisch Geschmack zu verleihen. Und meine Frau Salz wird es auch nicht tun. Da ist sowieso Hopfen und Malz verloren.“
Herr Messer sah irritiert auf und stoppte dann seine Versuche, das Fleisch zu zerteilen. Seine Silberlegierung war vor lauter Anstrengung tiefschwarz geworden. Mit den Worten „Du hast recht!“ legte er sich schwer atmend auf das Messerbänkchen neben dem Teller des Gastes. Jetzt durfte sich auch Frau Gabel völlig erschöpft neben ihn aufs Messerbänkchen legen. Sie dankte Herrn Pfeffer für sein Eingreifen, das ihren Partner endlich zur Vernunft gebracht hatte. Auf Herrn Messer war sie aber mindestens genauso sauer wie vor einer Stunde Frau Essig noch auf Herrn Öl.
Auch Frau Essig hatte gebannt das Schauspiel beobachtet, das Messer und Gabel boten. Sie dachte daran, dass ihr Frau Gabel kurz vorher einen guten Ratschlag gab, nämlich, dass es ihr als Essig egal sein sollte, ob die Gäste sie mochten oder nicht. Vielleicht war das die Lösung ihres Problems: Eine gute Portion Gleichgültigkeit, wenn ihre Essigmutter verrückt spielte und es voller Gram in ihr gärte.
Man sah es ja an Frau Gabel: Schlimmer ging’s immer. Gern würde sie ihr helfen, wusste aber nicht, wie sie es anfangen sollte. Frau Salz hatte jedenfalls das Falsche getan, wenn auch in guter Absicht, als sie etwas von ihrem kristallenen Inhalt auf die wunden Zinken der Gabel streute. Essigsäure wäre vermutlich genauso fatal, es sollte etwas Süßes sein. Da fiel ihr Blick auf das Honigtöpfchen, dass ziemlich verloren in einer Ecke des großen Tisches stand und von allem offensichtlich nichts bemerkt hatte. Es hatte eine große Öffnung, aus der ein langer Holzlöffel ragte. Frau Essig versuchte, den Löffel voller Honig aus dem Topf zu ziehen, um die Zinken der Gabel damit zu benetzen. „Honig ist schließlich ein Allheilmittel,“ dachte sie.
Es war jedoch nicht einfach, den Löffel zur Gabel zu balancieren, und als er gerade über dem Flaschenhals von Frau Essig schwebte, tropfte etwas Honig in sie hinein, direkt auf ihre Essigmutter. Diese reagierte umgehend mit dem dicklichen süßen Saft, der Gärprozess wurde beschleunigt. Zuerst dachte Frau Essig, ihr letztes Stündlein habe geschlagen, bis sie spürte, dass ihre Konsistenz etwas behäbiger wurde und sie plötzlich einen wunderbar ausgewogenen Duft verbreitete. Herr Öl begann zu schnuppern und sagte anerkennend: „Du bist ja ein richtig lecker Mädchen geworden.“
Als die Gastgeberin das Dessert auftischte, Vanilleeis mit einem exotischen Fruchtsalat, meinte einer der Gäste, die reifen Früchte könnten einen Schuss Säure vertragen, und griff zur Essigflasche. Die anderen Gäste taten es ihm gleich und lobten das harmonische Süß-Sauer-Verhältnis.
Frau Essig war glücklich. Besonders aber freute sie, dass Herr Öl sie ebenfalls lobte und überhaupt nicht eifersüchtig war. Sie schämte sich ein bisschen ihrer Unfreundlichkeit ihm gegenüber und entschuldigte sich bei ihm.
Er aber antwortete nur: „Man muss auch gönnen können.“ So arbeiteten sie noch viele Jahre Hand in Hand zusammen. Und da ihre Kristallflaschen immer rechtzeitig aufgefüllt wurden, tun sie es vermutlich immer noch.