Veröffentlicht: 18.04.2025. Rubrik: Unsortiert
Tyrannenmord
Ein sonniger Frühlingstag auf meiner kleinen, gepflegten Terrasse in der Nähe des Mirador de La Paz hoch über der Steilküste. Unter mir die charakteristischen weißen und pastellfarbenen Häuser der kleinen Stadt mit ihren rot gedeckten Dächern. Weiter voraus die sanft anrollenden Wellen des azurblauen Atlantiks. Zur anderen Seite, als Kontrast, der Gipfel des Pico del Teide, gekrönt mit einer zarten Schneekappe. Genau so habe ich mir das Ambiente meines Alltags als Pensionär in meinen Tagträumen vorgestellt. Jetzt, in meinen hohen Siebzigerjahren, genieße ich jeden dieser geruhsamen Tage der Restlaufzeit meines bislang rundum zufriedenen Daseins. Die unvermeidbaren, belastenden Ereignisse, wie Todesfälle in Familien- und Freundeskreis hatte ich, so glaubte ich zumindest bis vor kurzem, ohne bleibende Schäden überstanden.
Dann eine Nachricht unerwarteten Ursprungs, eine E-Mail, ich hätte sie in einem Reflex fast gelöscht. Und obwohl ich die Absenderin nicht kannte, las ich die Mail, die von einer mir bisher nicht bekannten, jüngeren Halbschwester stammte. Im Text erfuhr ich, dass ich kein Einzelkind war, und, ich war... adoptiert. Die Nachricht war ein Schock. Meine Eltern, oder besser, die Menschen, die ich mein Leben lang für meine Eltern gehalten hatte, hatten mir nie ein Wort davon gesagt. Beide waren schon lange tot - ihre Zuneigung war echt gewesen, daran zweifelte ich auch jetzt nicht. Mein bisheriges Leben war gut und richtig verlaufen, ich hatte dieses emotional und materiell in einem heilen Umfeld verbringen dürfen. Aber durch diese Nachricht wusste ich, sie hatten ein Geheimnis mit ins Grab genommen.
Und jetzt die Botschaft der neuen Schwester. Ihre Recherchen in einer Familienangelegenheit hatten sie zufällig zu einem Mann geführt, der in den frühen Fünfzigerjahren unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen war, mein leiblicher Vater. Heimtückischer Mord, hieß es in den Gerichtsakten seinerzeit. Und die Täterin? Eine junge Frau, meine, und ihre spätere Mutter, verhaftet, verurteilt, mehrere Jahre inhaftiert, danach: entlassen, zeitweilig in wechselnden Familienverhältnissen gelebt, vereinsamt gestorben. Keine aktive Familie, keine Kontakte zu Freunden. Aber eines blieb: ihre Überzeugung - bis zum Schluss. Sie hatte nie geleugnet, was sie getan hatte, stets nur begründet: Immer wieder sprach sie von Tyrannenmord, belegt durch kryptische Aufzeichnungen, darin war die Rede von Widerstand, Rebellion, Moral und Schuld. Gibt es für solch eine Tat eine Legitimierung? Ich war stark verunsichert und las die beigefügten Kopien mich verstörender Tagebuchauszüge mit wachsendem Unbehagen. Es war eine Geschichte, die mich tief betraf, mich sehr anfasste, andererseits aber nicht originär zu mir gehörte. Ich hatte nie das Gefühl gehabt, einer anderen Welt zu entstammen; und nun war diese andere Welt schlagartig erschienen, mit der Stimme meiner Halbschwester, die mich nun auch persönlich kennenlernen wollte. Dies lehnte ich nach gründlicher Überlegung in meiner Antwort ab, ich lege in meinem hohen Alter keinen Wert mehr auf späte Wahrheiten. Obwohl ich nicht abergläubisch bin, stieg kurzzeitig die These vom Fluch der bösen Tat in mir auf, ich wollte jedoch nicht, dass sich dieser Schatten manifestierte.

