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5xhab ich gern gelesen
geschrieben von rubber sole.
Veröffentlicht: 28.03.2025. Rubrik: Unsortiert


Vollkommen

Als Jugendlicher hatte er sich intensiv mit der Normen des Menschen befasst, mit den körperlichen Maßen und Proportionen. So fand er es spannend, dass hier geometrische Aspekte zur Bewertung herangezogen werden, vor allem die Verhältnismäßigkeiten des Körperbaus, bezogen auf den Goldenen Schnitt. Ein Gefühl der Harmonie durchflutete ihn, als er bei den Vermessung des eigenen Körpers ziemlich genau auf perfekte Maße kam, sogar in der idealisierten Form, die in der Bildhauerei früher für die Darstellung von Heldenfiguren herangezogen wurde. Er fand sich perfekt im Idealbild des Menschen wieder, so wie Leonardo da Vinci diesen als Modell gezeichnet hatte. Und er tat noch mehr dafür, das äußere Erscheinungsbild vollkommen erscheinen zu lassen, indem er sich durch gezieltes Training eine ansehnliche Muskulatur zulegte, alles blieb wohlproportioniert, das Gesamtbild harmonisch. Als er dann auch bei seiner Kopfform Idealmaße vorfand, war es vollends um ihn geschehen. Er betrachtete sein Abbild so oft im Spiegel, dass kaum Zeit blieb, das Ergebnis zu genießen, der Schritt in die Selbstverliebtheit war vollzogen. Und dieses Verhalten blieb seinem Umfeld nicht verborgen. Kaum zustimmende, aber häufige spöttische Reaktionen seiner Mitmenschen belasteten den hochsensiblen Menschen, er suchte eine Methode, dieses zu kanalisieren. Die Idee, neben einem makellosen Äußeren auch eine ausgeglichene innere Form zu finden, war schwierig, mentales Training allein genügte nicht, grundlegende Eigenschaften mussten angepasst werden - er war auf der Suche nach dem intrinsischen Goldenen Schnitt, falls es derartiges überhaupt gegen sollte.

Auf dem Weg zur harmonischen Einheit eines perfekten Geists mit einem ebensolchen Körper entschied er sich, die Schauspielkunst zu erlernen. Es schien der geeignete Weg, um äußere und innere Harmonie gekonnt zu vereinigen; denn Schauspieler beherrschen die Kunst, ihre Emotionen und Charakterzüge gezielt zu formen, ihre Körper und Mimik so zu einzusetzen, dass sie im Idealfall jede Rolle glaubwürdig spielen können. So nahm er Unterricht, übte jeden Tag vor dem Spiegel, perfektionierte seine Mimik und seine Gestik. Das Ziel war es, die Kontrolle über Körper und Geist zu steigern, um keine Rolle mehr spielen zu müssen, um sich vollkommen zu fühlen. Stattdessen wollte er die Kunst des Schauspielens so tief in sich verankern, dass er in jeder Situation seines Lebens die jeweilige Person glaubhaft würde verkörpern können.

Doch bald merkte er, Schauspielerei ist nicht ausschließlich eine Technik, sondern kann zum permanenten Vortäuschen werden, zu einem Überdecken der wahren Persönlichkeit mit Masken. Und über den Schauspielunterricht fand er den Weg zur Pantomime, in deren Stille, im Fehlen von Worten, wollte er die wahre Ausdruckskraft entdecken. Hierdurch öffnete sich ihm eine neue Welt, sein Körper konnte jetzt Gefühle und Gedanken ausdrücken - jede seiner Gesten wurde zur gefühlten Poesie. Doch er stieß an Grenzen, denn selbst perfekte Körperbeherrschung kann leere Räume der Seele nicht füllen. Das ständige Streben nach körperlicher und geistiger Vollkommenheit führte ihn schließlich zum Gesangsunterricht. Die Stimme, die er als weiteres Element der Gesamtharmonie betrachtete, schien der Schlüssel zu einem wahren Einklang zwischen Körper und Geist zu sein, wobei er auch seine Emotionen einbrachte. Und wieder kam er ans Limit. Selbst durch die erlernten vielfältigen Gesangstechniken vermochte er nicht, die Emotionen vollständig in die Töne einfließen zu lassen, der Klang wirkte vordergründig perfekt, blieb aber leer.

Die Suche nach dem idealen Gleichgewicht zwischen Körper, Geist und Seele ließ letztlich einen leeren Menschen zurück; die Äußerlichkeit hatte sich von der inneren Wahrhaftigkeit entfernt. Statt ein ganzes, erfülltes Wesen zu sein, war er zum Gesamtkunstwerk geworden, bestehend aus Fragmenten von Techniken, Masken und diversen künstlerischen Fertigkeiten. Am Ende musste er erkennen, dass der wahre Goldene Schnitt nicht nur durch Streben nach Perfektion zu finden ist, sondern in hohem Maß durch das Akzeptieren der eigenen Unvollkommenheit sowie der Unbeständigkeit des Lebens.

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von Bad Letters am 28.03.2025:
Kommentar gern gelesen.
Wieder ein toller Text aus deiner Feder rubber! Chapeau!

Zitat: „Am Ende musste er erkennen, dass der wahre Goldene Schnitt nicht nur durch Streben nach Perfektion zu finden ist, sondern in hohem Maß durch das Akzeptieren der eigenen Unvollkommenheit sowie der Unbeständigkeit des Lebens.“

Mein Zuspruch ist dir sicher!

MfG
Bad Letters





geschrieben von rubber sole am 29.03.2025:

Danke, Bad, für den Zuspruch zur 'Erkenntnis'. Eigentlich spräche dieses Fazit schon für sich alleine, aber: Mit etwas etwas mehr an Text lebt es sich als Hobbyschreiber zufriedener.

lgrs




geschrieben von Ernst Paul am 29.03.2025:
Kommentar gern gelesen.
Hallo rubber sole,

die Unvollkommenheit eines Menschen macht ihn erst liebenswert. Ein Mensch, der so präzise funktioniert wie ein Schweizer Uhrwerk und in sich alle Schönheitsideale vereint, ist doch eine uninteressante Person.

Sehr gern gelesen.

Liebe Grüße, Ernst Paul

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