Veröffentlicht: 28.02.2025. Rubrik: Unsortiert
Unteilbar
Im mittleren Erwachsenenalter, als die Jugend längst der Zeitgeschichte angehörte, begab ich mich auf eine ungewöhnliche Reise. Das Leben hatte mich zu einem Moment geführt, an dem ich nicht mehr nur den profanen Berufsalltag eines Sachbearbeiters in einem Versicherungsunternehmens als Lebensmittelpunkt sehen wollte. Auch all die vorangegangenen Jahre, zusätzlich gefüllt durch Familie und mehr oder weniger erbauliche Freizeitbeschäftigungen, ergaben für mich keinen Sinn mehr, ich hatte das Gefühl, meine innere Sanduhr riesele dem Ende zu, ich fragte mich: “Was soll das alles?“ Das kann es doch nicht gewesen sein, irgendwann dem Untergang der Menschheit sowie der eigenen Vergreisung zusehen, ohne die Antwort auf die elementare Frage nach dem Wesenskern des Lebens zu kennen.
Der Wunsch, den Sinn des Lebens zu ergründen, wurde täglich stärker, religiöse Deutungen schienen mir dabei zu märchenhaft wolkig - eine erklärende philosophische Wegweisung zu finden, wurde mein Ziel. Aber so etwas im Selbststudium erreichen zu wollen, schlug ich mir schnell aus dem Kopf; es würde nur, falls überhaupt, über ein Studium der Philosophie gelingen können. Und hier baute sich schon die erste Hürde auf: das fehlende Abitur. So begab ich mich auf dem zweiten Bildungsweg zurück auf die Schulbank, viel ernster und entschlossener als es früher der Fall gewesen war. Aber auch hier war der Weg steinig, am Fach Mathematik drohte ich erneut zu scheitern, ich suchte Hilfe durch Nachhilfe. Statt an einen Nachhilfelehrer der herkömmlichen Art zu geraten, dessen Vorgehensweise vermutlich aus einem Strickmuster aus Zahlen und Formeln bestehen würde, fand ich einen mit philosophischem Denkansatz in dieser mir bis dahin unheimlich erscheinenden Materie. Es ging ihm nicht um stumpfes Pauken; strukturelles Hineindenken in den Kosmos der Zahlen war seine Prämisse. Und dann geschah Seltsames mit mir: Ich wurde mit fast magischer Kraft in die Welt der Zahlen gezogen, ich kam über die Erkenntnis ihrer Strukturen deren Geheimnis nahe, was zur Antwort auf meine Fragen an das Leben führen könnte, so hoffte ich. Speziell das Geheimnis der Primzahlen, diese seltsamen, unteilbaren Wesen, die packten mich – ich war über den Weg eines Nachhilfeunterrichts in Mathematik in der Philosophie gelandet. Hier galt es die richtigen Fragen zu stellen, um eine zufriedenstellende Antwort zu finden – das eigentlich angestrebte Abitur strich ich aus meiner Agenda. Über das Eintauchen in die komplexe Welt der Primzahlen erfuhr ich viel Hintergründiges über wesentliche Bereiche unseres täglichen Lebens. Auf dem Weg zur Antwort auf meine essentielle Frage lernte ich fast alles über die Muster von Primzahlen und deren zentrale Rolle: Über Anwendungen in Wissenschaft und bei Datenverschlüsselung, bei Strukturen biologischer Phänomene, bei rhythmischen Mustern in Kunst und Musik; lebensnah angewandt sind sie unersetzlich und beeinflussen unser Leben. Aber ich wollte mehr wissen.
So wurde ich zu einem Primzahlen-Nerd, der den größten Teil der Zeit mit mathematischen Forschungen verbrachte, bis ich auf die 'Riemannsche Vermutung' stieß, deren Lösung angeblich Licht in viele unbekannte Bereiche auch außerhalb der Mathematik bringen sollte. Dort stieg ich tief ein und kam zu einem ähnlichen Schluss wie all die Koryphäen vor mir - das Problem war nicht zu lösen: Ohne vollständigen Beweis kann eine Annahme nicht korrekt sein. Bei meinen Forschungen war ich wohl irgendwo falsch abgebogen, als ich auch noch die Existenz Gottes mathematisch anhand von Wahrscheinlichkeitsmodellen beweisen wollte. Letztlich kam ich zu der verstörenden Erkenntnis: Naturgesetze sind Illusion. Voller Frust stand ich vor dem Denkansatz der Faustischen Klage über die Eingeschränktheit des Wissens. Eine Rückkehr in die nachvollziehbare Welt eines kaufmännischen Sachbearbeiters war jedoch keine Option, ich blieb Suchender.

