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2xhab ich gern gelesen
geschrieben von rubber sole.
Veröffentlicht: 17.01.2025. Rubrik: Unsortiert


Ausgebremst

Es gab einen Zeitpunkt in meinem Leben, an dem ich beschloss, meine Erinnerungen an bestimmte Ereignisse auszublenden. Ich hatte einfach genug von all den negativen Schlagzeilen und der öffentlich stattfindenden Aufgeregtheit zu allen wichtigen und unwichtigen Themen des Lebens. So verweigerte ich Nachrichten verschiedenster Art, und was dann noch durchsickerte, vergaß ich sofort wieder, ganz bewusst. In einem Alter hoch in Siebzigern wird Vergesslichkeit als normal angesehen, auch bei mir, dem man, bei ansonsten bestätigter Alltagstauglichkeit, den Einstieg in eine prä-demente Phase nachsah, so die Meinung meines jüngeren Bruders. Dieser war auch sogleich mit praktischen Tipps zur Hand, um mir das Leben weiterhin lebenswert erscheinen zu lassen. Gut gemeint, aber völlig daneben.

Er konnte es nicht besser wissen, meine darstellerische Leistung in Bezug auf Verwirrtheit war nahezu perfekt, als ich begann, meinem Umfeld immer mehr und immer größere Gedächtnislücken vorzugaukeln. Was anfänglich lediglich als eine temporäre Auszeit aus einzelnen Begebenheiten gedacht war, wurde zum generalisierten Muster, mir gefiel die Rolle des vertrottelten Alten, der sich vieles nicht mehr merken kann. Auf diese Weise erhielt ich eine andere Sicht auf das alltägliche Leben. Die Krisen dieser Welt, in all der schrillen Lautstärke vorgetragen, nahm ich bald nur noch am Rande wahr, irgendwann gar nicht mehr. Doch es es gab auch andere Bereiche, bei denen mir ein wacher Verstand gutgetan hätte, welchen man mir nun aber absprach, sobald ich mich zu Worte meldete - ich galt neuerdings ja als jemand mit einem wenig funktionierenden Gedächtnis. In diesem Fall ging es um die Abwicklung des großen Familieneigentums, zu dessen Bestand unter anderem eine Gehörgerätefabrik von mittlerer Größe zählte. Mir war dabei nicht an finanziellem Profit gelegen, ich war lediglich der Auffassung, dieser Betrieb solle im Sinne der engagierten Belegschaft nicht in die Hände eines Investmentmultis geraten. 'Old-School-Gedöns', so hieß es sofort aus dem Kreise der Verwandtschaft, allerdings vor dem Hintergrund, dass ich noch stimmberechtigtes Mitglied im Aufsichtsrat war. Meine 'Memorierungsschwäche' war amtlich noch nicht beurkundet worden, dies wollte die Sippe zügig ändern, sie drängte darauf, mich offiziell für geschäftsunfähig erklären zu lassen.

Und dagegen hatte ich was. Nur, es war schwierig, einen wieder funktionierenden Zustand glaubhaft zu machen. Ich war in eine selbst gestellte Falle geraten, aus der ich wieder herauskommen musste. In einer unerwarteten Wendung inszenierte ich glaubhaft einen klaren Moment, ich bat um ein Treffen mit meinem jüngeren Bruder und den übrigen stimmberechtigten Mitgliedern der Familie, vorgeblich, um meine Verabschiedung aus dem Aufsichtsrat zu besprechen. Die Reaktion war vorhersehbar: Erleichterung und ein gieriger Glanz in den Augen jener, die schon lange auf diesen Moment gewartet hatten. So legte ich den perfekten Köder aus.

Dann, in meiner Rede, bei der ich absichtlich ein wenig fahrig wirkte, ließ ich beiläufig fallen, ich hätte in älteren Unterlagen eine Anordnung gefunden: Eine testamentarische Verfügung, dass mein Sitz im Aufsichtsrat an eine Stiftung übergehen würde, falls ich jemals geschäftsunfähig erklärt werden würde. Diese Stiftung, so betonte ich nebenbei, würde sich ausschließlich den Interessen der Belegschaft der Gehörgerätefabrik widmen und jegliche Übernahme durch Investoren blockieren.

Schockstarre bei meiner Verwandtschaft. Allein die Aussicht, ihren Einfluss auf das Unternehmen zu verlieren, ließ sie innehalten, sie zeigten sich spontan kompromissbereit. Es kam zu einer Einigung, die Fabrik ging in die Hände einer Kooperative der Belegschaft über, ganz in meinem Sinne. Ich stimmte zu, meinen Platz im Aufsichtsrat durch ein von der Belegschaft gewähltes Mitglied ersetzen zu lassen – dies war nach außen hin mein vermeintlich letzter klarer Moment, ein finaler Akt der Vernunft. Meine Darstellung der schwankenden Klarheit war überzeugend gewesen. Den Übergang zum endgültigen mentalen Rückzug gestaltete ich verhalten, einen Hauch von Exzentrik behielt ich jedoch bei, indem ich hin und wieder zur Unberechenbarkeit neigte. Zwar ging nun das Leben da draußen unvermindert weiter, ich war jedoch mit mir im Reinen und hatte gelernt, mit den Krisen dieser Welt anders umzugehen.

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