Veröffentlicht: 07.02.2025. Rubrik: Unsortiert
Wiederhergestellt
Die Stille im Raum wurde erdrückend, zunehmend schwerer zu ertragen, nachdem der Hauptfeldwebel das Büro des Oberstleutnants betreten hatte. Der Klang seiner Schritte, das leise Knarren der Bürotür vorher, das Rascheln des Papiers, das er auf den Schreibtisch legte – all das bewirkte eine veränderte Atmosphäre. Der Stabsoffizier, der bis zu diesem Moment in Gedanken versunken war, riss sich aus diesen heraus. Ein kurzer Blick auf den Umschlag, der vor ihm lag: weiß, sauber, fast steril, kein sichtbarer Hinweis auf den Inhalt. Jetzt, nachdem er zum ersten Mal in seinem Leben einen Arzt wegen des Verdachts auf eine schwerwiegende Erkrankung konsultiert hatte, verunsicherten ihn seine aktuellen retrospektiven Gedanken, die von existentieller Art waren und bis tief in die Kindheit zurückführten. Seine militärische Laufbahn war absolut störungsfrei verlaufen. Für ihn hatte es zwar privat einige Unstimmigkeiten gegeben, die seiner Neigung zur Hypochondrie geschuldet waren, aber niemals zuvor hatte er stärker auf die Unsinnigkeit einer seiner eingebildeten Krankheiten gehofft, er, der all seine neurotischen Anwandlungen letztlich überwiegend erfolgreich verborgen hatte und routiniert in einer Tarnung gelebt hatte. Das hier fühlte sich nun anders an. Die letzten Worte des Arztes nach erfolgter Untersuchung hallten wieder in ihm nach: „Es gibt keine hundertprozentige Sicherheit“. Und das ihm als Hypochonder, ausgerechnet!
Der Lebensabschnitt, der im Anschluss an die niederschmetternde Krebsdiagnose folgte – im Rang eines Oberstleutnant der Reserve war er nach Ende der langwierigen Therapiezyklen aus dem Militärdienst ausgeschieden –, wurde über einen längeren Zeitraum von Reha-Maßnahmen geprägt. Dies hatte u. a. starke mentale Veränderungen zur Folge; auch seine allgemeine Einstellung zum Leben war nach Wiederherstellung der Gesundheit eine komplett andere geworden. Das frühere egozentrische Verhaltensmuster hatte er inzwischen abgelegt, er hatte seine innere Orientierung neu sortiert, es waren kaum noch Spuren vorheriger narzisstischer Neigungen zu erkennen. Früher, als Stabsoffizier, hatte er die gesamte militärische Laufbahn erfolgreich dem Ziel untergeordnet, ganz nach oben zu gelangen; allein schon seinem Habitus als Führungsoffizier hatte man dieses auf jedem Schritt der Karriereleiter angemerkt. Nun aber, beginnend in der Zeit der Rekonvaleszenz, waren grundlegende Veränderungen in seinem Wesen festzustellen. Er war dem Leben zugewandter, strahlte Empathie aus in seinem neuen Dasein, das er in einem kleinen Haus in Joli-Bois führte, unweit seines letzten Stationierungsstandorts im Nato-Hauptquartier des nahegelegenen Brüssel.
Für die endgültige Genesung des vorher schwer erkrankten Ex-Soldaten war dieses Refugium in der geruhsamen Provinz Wallonisch-Brabant enorm wichtig gewesen. Hier überwand er den schmerzhaften Prozess der Wiederherstellung. Die Ruhe des nahen Walds von Soignes mit seinem dichten Buschwerk und schattigen Bäumen hatten stark zur Veränderung des ehemaligen Führungsoffiziers beigetragen. In dieser Umgebung erlebte er eine Regeneration, die ihn neue Kraft schöpfen ließ, ihn festigte. Diese Umwandlung war stark von der intakten Natur nahe der kleinen Stadt Waterloo beeinflusst worden. Genau in dieser Gegend hatte gut zweihundert Jahre zuvor eine fürchterliche Schlacht den Beginn einer neuen europäischen Ordnung durch die Niederlage Napoleon Bonapartes eingeleitet. Die Synergien solidarischer Kräfte vorher uneiniger Staaten hatten dies möglich werden lassen - mitten in Europa war dadurch etwas neues Gemeinsames entstanden. Und der ehemalige Offizier genoss täglich diese friedliche Aura um sich herum, sah die Natur hier mit ihren idyllische Wiesen und Auen. Beim Anblick der Bäume konnte er sich vorstellen, wie sie nach früheren Zerstörungen irgendwann wieder angefangen hatten zu wachsen, sich ihre Wurzeln festigten und die Zweige eine neue Krone bildeten, um sich zum Licht zu strecken.
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