Veröffentlicht: 12.04.2025. Rubrik: Menschliches
In aller Schweigsamkeit
Andächtig beobachte und zähle ich jeden Bruchteil einer Sekunde, wie die Sonne in den Weiten des Ozeans versinkt und meine Tagträume mit sich nimmt, um die Illusionen der Nacht zu wecken. Stück für Stück löschen die Wellen das Licht, bis sich nur noch seine Glut in den Wolken spiegelt, die hinter dem Horizont ins Nichts fallen. Der Wind der Melancholie streift durch mein langes Haar und flüstert mir mein Sehnen.
Ein Sehnen, das mich erbeben lässt und mich bis in den letzten Winkel meines Seins berührt. Ich gehöre nur mir, und mich selbst zu spüren, ist das größte Geschenk, dass das Leben bereit ist zu geben. Ich denke nicht an die Vergangenheit und ich versuche nicht in die Zukunft zu blicken. Denn in der Zukunft wartet nichts, was ich nicht bereits in der Vergangenheit empfing. Selbst der Tod schreckt mich nicht, immerhin wurde ich aus ihm geboren. Wo sollte ich sonst herkommen?
Demütig lege ich alle Kleider ab, und mit ihnen alle Eitelkeit, die sich in ihrer Zier manifestiert. Wer der Welt nicht nackt entgegentreten kann, hat den Bezug zu ihr verloren. Nur im Ursprung kann man sein Reines selbst finden. Die Kälte, die mich empfängt, ist eine Brücke, die mich Verbindung zum Ozean aufnehmen lässt, als ich in ihm versinke. Er umspült mich und greift nach meiner inneren Wärme. Indem er mir meine Energie entzieht, erlaubt er mir, sein Wesen zu erkunden und seine Weite in mich aufzunehmen.
Schwerelosigkeit ist nur der Anfang eines Gefühls, das natürlicher nicht sein könnte. Das Wasser in meinem Körper kommuniziert mit dem des Ozeans in einer Sprache, die seit Anbeginn unserer Tage in uns existiert. Im Wasser liegt unser Entstehen und deshalb tragen wir sein Erbe tief in uns verborgen. Ich spüre es mit jedem Zug, den ich schwimme, mit jedem Schluck, den ich trinke. In der Schwerelosigkeit des Ozeans werden er und ich, in aller Schweigsamkeit, wieder eins.

