Veröffentlicht: 10.03.2025. Rubrik: Unsortiert
Die Frau, die niemals lächelte
Gestern hatte ich eine eigenartige Begegnung; die Überlegungen, die sich daraus ergaben, halte ich für bedeutsam genug, um sie Euch, liebe Leserinnen und Leser, mitzuteilen.
Es war am späten Vormittag. Der Himmel war, wie schon seit Tagen, unendlich grau, es nieselte. Ich kehrte gerade von einer Besorgung in der Stadt zurück. Eine junge Frau kam mir entgegen; ihr frisches, rundes Gesicht glänzte vor Feuchtigkeit; mit den üppig quellenden blonden Haaren unter der knallroten Mütze wirkte es an diesem trüb-kalten Wintertag wie ein unverhoffter, warmer Frühlingsgruß.
Als wir nur noch wenige Schritte von einander entfernt waren, lächelte sie mich an; es war ein heiteres, unbeschwertes Lächeln, und ich sah ihre Augen blitzen wie zwei blaue Diamanten.
Nun kommt es schon vor, dass mich fremde Menschen anlächeln, worauf ich mir allerdings nichts einbilde; denn in den meisten Fällen gilt dieses Lächeln nicht mir, sondern Marlene, meiner Hündin, einem entzückenden kuscheligen Geschöpf. Die Leute sehen das Tier, blicken auf und lächeln mir kurz zu, als wollten sie sich für den herzerfrischenden Anblick bedanken.
Aber diesmal war ich ohne Marlene unterwegs, und das Seltsame: Ich hatte diese blutjunge Frau noch nie gesehen, sie war mir völlig unbekannt, und ich gehe deshalb davon aus, dass auch ich ihr völlig fremd war, denn die Zeiten, zu denen ich beruflich mit jungen Frauen in Kontakt gekommen bin, sind lange vorbei, und als Sehnsuchtskerl heimlicher Verehrerinnen tauge ich nicht. Was also mag für sie der Grund gewesen sein, einen völlig fremden Mann anzulächeln?
Wie dem auch sei . . . Ich genoss es. Ich empfand es wie das Geschenk eines vom Himmel herabgestiegenen Engels, und der Rest des Tages verlief in angenehmer Gemütslage.
Doch schon bald musste ich an eine andere Frau denken, und die Erinnerung an sie ist nicht mehr so schwerelos . . .
In der Studentenkneipe war großer Betrieb. Nebelschwaden lagen in dem von allerlei Dünsten erfüllten Lokal, doch diesmal war´s nicht mit Wasserdampf überladene Luft, sondern Zigarettenrauch. Eine Bedienerin unbestimmbaren Alters kam an unseren Tisch, um die Bestellungen aufzunehmen. Sie nahm unsere Wünsche mit unbewegtem Gesicht entgegen. Auch als sie das Bestellte brachte, verzog sie keine Miene, so, als wäre ihr Gesicht von einer zweiten, starren Haut überzogen. Dazu passte, dass ihr Gesicht fast völlig faltenfrei war; wenn ihr Alter, wie ich schon andeutete, mit Sicherheit nicht zu bestimmen war, so konnte sie wegen der angerauten Haare doch nicht mehr sehr jung gewesen sein, und die Jahre hinterlassen ja unerbittliche Spuren im Gesicht des Menschen. Doch hier – nichts als verblüffende Glätte.
Ich verzichte jetzt darauf, all die flapzigen Bemerkungen wiederzugeben, die in unserer Runde fielen, angeheizt durch den Alkohol und verzeihlich wegen der Unerfahrenheit unserer Jugend. Wir hielten sie für unhöflich und gefühlskalt, für eine „typische münsteraner Jungfer“, die sicherlich „ungeöffnet zurückgeht“, wie sich einer ausdrückte, „das reinste Pokerface“ – natürlich totaler Unsinn.
Jemand kam auf die Idee, sie durch ein üppiges Trinkgeld aus der Reserve zu locken; denn was, wenn nicht Geld, so war die Überlegung, könnte ihrem versteinerten Gesicht eine Reaktion, vielleicht sogar ein kleines Lächeln abtrotzen. Wir legten also zusammen, nicht übermäßig viel, aber ein für unsere Verhältnisse hübsches Sümmchen und schoben es ihr hin, als sie zum Kassieren kam. Doch auch diesmal verzog sie keine Miene, sie blickte nur kurz in die Runde, sammelte das Geld ein, nickte, drehte sich um und stapfte davon.
Das ist also das Szenario, das mir durch den Kopf ging, nachdem mich die junge Frau auf der Straße angelächelt hatte.
Inzwischen las ich von einer Frau, die als ganz junges Mädchen aufhörte zu lachen, damit ihr Gesicht keine Falten bekommt. Von mir aus. Nur, was ist an Falten so schlimm? Das Gesicht meiner Mutter war zum Schluss von Runzeln und Falten bedeckt wie ein Acker nach der Ernte, ich habe jede einzelne Falte und Runzel in ihrem Gesicht geliebt.
Doch diese Bedienerin gehörte nicht zu dieser Sorte Frauen wie das eben erwähnte junge Mädchen. Denn, als ich ihr in die Augen blickte, las ich kein trotziges Selbstbewusstsein, kein wütendes Angehen Verwerfungen des Alters, sondern abgrundtiefe Traurigkeit.
Heute weiß ich, dass die Frau in der Kneipe weder unfreundlich noch kaltherzig gewesen war, sondern krank. Sie litt allem Anschein nach an einer unheilbaren Gesichtsmuskellähmung, dem so genannten Möbius-Syndrom, das einen unter vier Millionen Menschen betrifft.
Der medizinische Sachverhalt steht jetzt nicht zur Debatte.
Was mich bewegte war der Gedanke, dass diese Frau mit dem Pokergesicht möglicherweise tief unglücklich gewesen war, und dass wir ihr Unrecht getan hatten. Denn die Unfähigkeit zu lächeln stelle ich mir als großes Unglück vor; lächeln können halte ich für eine der köstlichsten Gaben, welche die Natur dem Menschen in die Wiege gelegt hat – und gerade auf diese Gabe musste sie ein Leben lang verzichten.
Das Lachen – auch gut. Aber ist es genau so rein, so freigiebig, so ohne alle Hintergedanken? Schließlich kann man jemanden auslachen, verlachen, man kann hohnlachen, man kann drohen: „Dir wird das Lachen noch vergehen!“ Aber kann man jemanden auslächeln, verlächeln und so weiter? Mancher versucht, eine Krise tapfer„durchzulächeln“, was auf eine Täuschung hinausläuft. Das nun ist für mich kein echtes Lächeln mehr, es ähnelt eher einem Grinsen, diesem missratenen Bruder des Lächelns. Ein ehrliches Lächeln kann das Eis, das die Gemüter vieler Menschen bedeckt, zumindest für den Augenblick zum Schmelzen bringen, aber niemals ein Grinsen.
Ich habe deshalb schon vor einiger Zeit beschlossen, mehr zu lächeln. Zum Beispiel morgens vor dem Badezimmerspiegel. Ich lächle mich an – und schon beginnt der Tag heiter. Oder als mir vor ein paar Tagen das Handy ins Klo fiel. Ich schimpfte und fluchte nicht – ich lächelte. Oder ich lächle den Nachbarn an, diesen alten verbitterten Grisgram. Nicht weil ich mir einbilde, ich könnte ihn durch mein Lächeln ändern.
Aber mir geht es dann besser.

