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7xhab ich gern gelesen
geschrieben von Federteufel.
Veröffentlicht: 25.10.2024. Rubrik: Unsortiert


Mein Bruder – der Komödiant

Mir gegenüber, an der Wand mit der geblümten Tapete, hängt ein Foto meines Bruders, und jedesmal, wenn ich es ansehe, empfinde ich ein leichtes Grauen. Mehrmals schon war ich kurz davor, das Foto abzunehmen und in irgendeiner Schublage zu vergraben; doch schließlich zeigt es meinen Bruder, den ich schon einmal begraben hatte, warum ihn noch ein zweites Mal begraben? Also hängt es immer noch da.
Mein Bruder starb mit 64 in der Straßenbahn einer rheinischen Großstadt, gerade in dem Moment, als die Bahn in einen Tunnel einfuhr. Ein Fahrgast sah ihn vom Sitz kippen und zog in bester Absicht die Notbremse, was zur Folge hatte, dass der Notarzt zu spät kam, denn die Bahn steckte nun im Tunnel.
Als Todesursache wurde 'unbekannt' vermerkt.
Er war eine gute Seele, wie man so sagt, dieser Bruder, ein Meister im Teilen und Abgeben. Früher, als wir noch Kinder waren, verteilte er Großmutters Süßigkeiten leichthändig an die Nachbarkinder, während ich meine Schokolade verschlang wie ein hungriger Welpe. Wie oft hat er später, als er schon in Amt und Würden war, der bedürftigen Verwandtschaft Geld geliehen und selten etwas zurück bekommen. Ich hingegen . . .
Ja, wir stammten zwar aus demselben Stall, mein Bruder und ich, aber wir waren aus verschiedenem Holz geschnitzt. Er, zart, weich, oft den Tränen nah – besonders, wenn ich meinen Schabernack mit ihm trieb; ich, ein Erz-Hallodri, ständig zu Streichen aufgelegt. Später verloren wir uns mehr oder weniger aus den Augen; er vergrub sich in verschiedene Studiengänge, ich gründete eine Familie.
Vor mir liegen weitere Fotos, die ich aus seinem Nachlass gerettet habe: Mein Bruder vor imposantem Alpenpanorama; mein Bruder auf einem orientalischen Basar; mein Bruder in geselliger Runde, ein halbvolles Bierglas in der Hand. Doch seltsam, immer steht er so, dass man sein Gesicht nicht sieht, es hat den Anschein, als habe er in letzter Sekunde erkannt, dass er fotografiert wird und den Kopf abgewendet.
Da ist ein Foto, das ich nicht gelten lasse: Ein Mann, Anfang sechzig, mit weißem Hemd, offenem Kragen, schwarzen Haaren und schwarzer Weste. Er trinkt einer unbekannten Person zu, anscheinend auf einer Betriebsfeier, Sekt und belegte Schnittchen stehen auf dem Tisch. Das soll mein Bruder sein? Ich will es nicht glauben. Natürlich, vom Gesicht her ist er´s schon und von der Statur, aber warum ließ er sich die Haare färben? Er war mit vierzig schon grau. Dann diese joviale Art, wie er sich mit mokant hochgezogenen Augenbrauen über den Tisch beugt, um die Mundwinkel einen leisen ironischen Zug, offenbar bereit, mit jemandem anzustoßen. Das ist nicht mein Bruder, geht es mir durch den Sinn, das ist nicht der Bruder, den ich in Erinnerung habe. Das spielt einer Komödie!
Gut, der Mensch verändert sich. Und ja, wer kennt seinen Bruder schon, wenn man sich selbst nicht richtig kennt. Doch warum wird aus einem ernsthaften Mann ein Komödiant? Doch wohl nur, weil er etwas verbergen will. Doch was? Ich hätte es gerne gewusst (obwohl ich es ahne), aber er ließ nie etwas raus. Auch wenn wir zusammensaßen und uns der Alkohol den Mund öffnete (was alle Jubeljahre mal vorkam), redete er von diesem und jenem, aber nicht von sich, und auf Nachfragen wurde er einsilbig. Das mit seiner zerbrochenen Liebschaft erfuhr ich erst auf seiner Beerdigung aus fremdem Mund. Er wusste fast alles von mir, ich wusste fast nichts vom ihm.
Wieder blicke ich zu dem gerahmten Foto vor mir, das ihn ein paar Wochen vor seinem Tod zeigt, nachdem kurz zuvor unsere Mutter gestorben war. Jetzt ist alles Komödiantische und Ironische aus seinem Gesicht verschwunden; der Blick stumpf, grau, er geht an mir vorbei, natürlich interessiere ich ihn nicht. Es ist der Blick eines zutiefst einsamen Menschen, der stets die Liebe einer Frau ersehnt und nie gefunden hat, aus welchem Grund auch immer, und der sich stattdessen an seine Mutter hängte. Und als dann diese Mutter, die einzige Frau in seinem Leben, starb, ging er hinterher.

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von Stephan Heider am 26.10.2024:

Sehr berührend geschrieben.

Wie häufig doch die Dinge mit nahestehenden Menschen unbesprochen bleiben. Das hinterlässt ein mieses Gefühl von verpassten Chancen, die man vielleicht auch oft selbst hat sausen lassen, weil man dachte, es bleibt ja noch viel Zeit.

Liebe Grüße, Stephan

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