Veröffentlicht: 09.09.2024. Rubrik: Unsortiert
Mein Eden
Der Himmel ist bedeckt mit Dutzenden weißer Schwäne, die ohne Eile einem unbekanntem Ziel zutreiben; Sol, der alte Sonnengott, strahlt, als käme er es bezahlt; die Leute haben freundliche Gesichter aufgesetzt, sogar mein Nachbar, sonst ein unverbesserlicher Grisgram, lächelt süßsauer.
Er stellt den Staubsauger aus, mit dem er gerade die letzten Reste seiner Mähaktion aufsaugt, winkt mir zu und ruft: „Na, Herr Nachbar, wohin geht’s denn diesmal?“
„In mein Eden!“, ruf ich zurück.
„In Ihr Eden? Wo liegt das denn?“, kommt es erstaunt zurück.
Auf einem meiner Streifzüge durch die Wälder der Umgebung entdeckte ich ihn: Einen Weiher, ganz versteckt hinter Gebüsch und unter Bäumen; daneben ein wetterschiefes Hüttchen mit einer Bank davor. Sein Wasser, schwarz wie blanker Teer, war gesäumt von Schwertlilien und anderen blühenden Pflanzen.
Ich setzte mich auf die klapprige Holzbank vor der Hütte und betrachtete das kleine Paradies, und je länger ich hinsah, desto mehr entdeckte ich.
Blau schimmernde Libellen, selbstverliebt im Liebesrad, schaukelten von Rohr zu Rohr; ein Käferich auf Freiersfüßen, schwankend auf dünnem Stängelpfad, ließ sein Prachtkleid erglänzen; Wasserläufer eilten anscheinend ziellos hin und her, auf einem Lummelblatt saß ein Krötentandem und staunte mich mit goldumrandeten Augen an. Die Stille war groß, wie mit Händen zu greifen; bis auf das Gesumm der Insekten kaum ein Laut.
Ein kleines Stück vom Paradies, dachte ich beglückt, fernab von der Geschäftigkeit der Menschen und ihrer Qual. Ich schloss die Augen und lehnte mich zurück, von der milden Spätsommersonne liebkost.
Ein Brummen, Quarzen und Unken begann, der Chor der Kröten war erwacht. Der Gesang schwoll mächtig an; in der Stille kam er mir vor Paukenschlag und Posaunenschmettern. Dazwischen schlug ein Elfchen mit einem feinen Hammer immer wieder auf eine gläserne Glocke.
Ich lauschte entzückt; noch nie hatte ich Unken, Frösche und Kröten zusammen und in dieser Klarheit singen gehört.
Auf einmal fühlte ich mich leicht, befreit, wie ein Vogel in der Luft. Das nennt man wohl Glück, dachte ich noch, dann –
Auf einmal, ein lauter, scharfer Knall – das Konzert brach schlagartig ab, ein Häher schrie.
Verärgert öffnete ich die Augen und blickte zum Himmel. Noch immer zogen die Schwäne dahin; noch immer war der Himmel strahlend blau, doch in der Luft lag, wie ferner Kriegslärm, ein dumpfes Grollen. Dann entdeckte ich die Quelle des Knalls: Ein Düsenjet mit seinem Überschall hatte die Idylle für einen Moment aus dem Gleichgewicht gebracht.
Der Mensch hat diese Natur überhaupt nicht verdient, dachte ich und stand auf, diese Natur, die alles verzeiht und immer wieder von Neuem Trost spendet.
Das war im Frühjahr, an einem blau-warmen Tag im Mai. Jetzt ist Ende August, und wieder zieht es mich in mein Eden, in mein kleines Paradies, auch wenn es ein Paradies auf Zeit ist. Ich schwinge mich aufs Rad und rufe dem Nachbarn zu: „Überall auf der Welt, wo man in der Sonne sitzen und für ein paar Minuten glücklich sein kann!“