Veröffentlicht: 20.01.2025. Rubrik: Fantastisches
Schreck im Nebel
Ist Ihnen das auch schon passiert? Sie blicken aus dem Fenster, und der Fernsehturm oder ein anderes markantes Gebäude ist verschwunden? Sie bekommen einen heillosen Schrecken und rufen: „Mein Gott, wie konnte das passieren? Gestern Abend stand der Kasten doch noch da?“
So ähnlich erging es mir heute morgen so gegen halb acht. Mein Blick traf auf eine konturlose, grau-weiße Fläche, da, wo gestern noch der Turm der Marktkirche gestanden hatte, wie schon seit sechshundert Jahren. Ich war nicht gerade zerschmettert – dazu bin ich zu wenig kirchengläubig – aber doch ziemlich überrascht, denn damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet.
Nun gut, mein Verstand sagte mir, er ist natürlich nicht verschwunden, sonder nur gerade nicht zu sehen, was in diesem Moment aber fast aufs Gleiche hinauslief. Denn mein Gefühl zog mich in eine andere Richtung. Sofort überkam mich ein nagendes Unbehagen, und eine große Niedergeschlagenheit ergriff mich, was durch den dicken Nebel, der die Stadt seit zwei Tagen im Griff hält, noch verstärkt wurde. Kurzzeitig fühlte ich mich im freien Fall, wie bei einem Sturz ins Bodenlose.
Sie halten das für übertrieben?
Dann sollten Sie wissen, dass diese Stadt in der Vergangenheit einige Probleme mit ihren Türmen hatte, ja, ich scheue mich nicht, hier sogar von Ignoranz zu sprechen. Da ist zum Beispiel der Wasserturm, ein schöner neoklassizistischer Bau von imposanten Ausmaßen und mit beglückenden Proportionen. Vor vierzig Jahren sollte er abgerissen werden – angeblich, weil er nicht mehr gebraucht wurde und sein Unterhalt zu teuer werden würde. Eine Bürgerinitiative rettete den Turm und machte ihn mit viel Liebe zum Detail zu einem Touristenmagneten. Dann ist da eine Reihe abgesägter Stoßzähne auf gründerzeitlichen Bürgerhäusern – Reste ehemaliger Spitztürmchen, für deren Erhalt kein Geld da war. Und das in einer Stadt, die im Mittelalter für ihre hundert Türme berühmt war. Es ist ein Jammer.
Und jetzt ist erst recht kein Geld da. Die Stadt sitzt auf mehr als einem Berg Schulden.
Verstehen Sie jetzt, warum ich Angst habe, der Kirchturm könnte eines Tages tatsächlich verschwunden sein, abgetragen und verkauft an einen Multimilliardär, der außer vergoldeter Rolls Royce´ auch noch Kirchtürme sammelt? Denn heutzutage kann man ja fast alles kaufen, ganze Fabriken, Atomanlagen, Hafenkräne, weiß nicht was noch alles.
Eines ist sicher: Ich würde den Turm sehr vermissen. Wenn ich auch, wie schon gesagt, nicht kirchengläubig bin, so gibt mir doch der Anblick dieses mächtigen, zeitlosen, hoch aufragenden Bauwerks Kraft und Halt und die Hoffnung, dass die Welt trotz aller Kümmernisse möglicherweise noch weitere sechshundert Jahre besteht.
Deshalb rechne ich stark damit, dass, wenn sich der Nebel aufgelöst hat, er wieder in voller Größe da steht, wo er schon immer gestanden hat.
Und wenn nicht?
Tja . . .