Veröffentlicht: 04.01.2025. Rubrik: Aktionen
Die Freistunde
9 ½ Jahre lang ging ich gerne zur Schule. Ich lernte spielerisch und war zufrieden mit meinen Schulnoten. Erst im 2. Halbjahr der 10. Klasse wurde ich zum ersten Mal mit dem konfrontiert, was man Stress nennt. In jedem Fach sollten, fast zeitgleich, Tests geschrieben werden. Für jeden wollte ich möglichst gut vorbereitet sein und warf einen, mehr wenigen intensiven, Blick auf alte Lektionen. Als wäre das nicht schon genug, verlangten die Leerkräfte – oh pardon, es muss natürlich Lehrkräfte heißen – Hausaufgaben, wobei sie übersehen hatten, dass der Tag nur 24 Stunden hat. Ich legte keinen Wert auf eine Gymnasialreife, aber ein passabler Realschulabschluss sollte es schon werden. Und so begann ich zu priorisieren und die Kunst des Weglassens bei meinen Hausaufgaben anzuwenden. Ein Fach, bei dem ich den Minimalismus des Lernens besonders intensiv praktizierte, war Religion.
Die Schulglocke klingelte, der Religionslehrer betrat das Klassenzimmer und forderte alle auf: So, und nun zeigt mir mal Eure Hausaufgaben.“ Alle Schulhefte wanderten aus dem Schulranzen auf die Schulbank. Auch meins. Ich wollte wenigstens so tun als ob. Und als hätte Herr Wilkening eine Eingebung von ganz oben erhalten, forderte er mich auf vorzulesen. „Ich habe die Hausaufgaben nicht gemacht,“ antwortete ich wahrheitsgemäß. „Und warum nicht ?“ lautete die Gegenfrage. „Weil ich für so einen Quatsch keine Zeit hatte“, sagte ich frech. Noch bevor ich das letzte Wort ausgesprochen hatte, landete die flache Hand von Herrn Wilkening in meinem Gesicht. Ok, ich hätte bei meiner Antwort kreativer sein können: „Meine Katze hat die Tasse Kakao umgekippt und über meinen Hausaufgaben verteilt. Oder, Oma hat ihre Brille verlegt und aus Versehen, mein Religionsheft im Ofen verbrannt.“ Aber das hätte nicht zu meinem Sternzeichen Widder gepasst. Ich kam, ohne Umschweife zum Punkt, sagte was ich dachte und lebte nach der Devise: “ Lächle mit Deinen Feinden, nichts ärgert sie mehr“. Und so grinste ich den Lehrer an, packte meine Schultasche und verließ den Klassenraum.
Meine Mutter wunderte sich, dass ich bereits so früh zu Hause war und ich erklärte ihr den Grund. Bei jedem anderen Fach, hätte es von ihr noch eine zweite Ohrfeige gesetzt. Aber bei Religion ...., Ich kannte ihre Einstellung und sagte, dass ich von dem Religionsunterricht befreit werden kann, wenn sie mir eine Bescheinigung ausstellt.
Und so kam es, dass ich im letzten Halbjahr der 10. Klasse, einmal pro Woche eine Freistunde hatte.
Ich glaube, ich habe nichts verpasst.