Veröffentlicht: 26.11.2024. Rubrik: Spannung
Treu
Boris wollte nicht glauben, dass er gerade starb. Es tat nicht weh, fühlte sich aber unumkehrbar an.
Vor zehn Sekunden noch lag dieser Moment Jahrzehnte entfernt in der Zukunft.
Sein Leben war perfekt am oberen Ende der Nahrungskette in einem mafiösen Clan.
Vor zehn Sekunden noch genoss er ein Glas Weißwein zum Risotto und dachte an eine neuerliche Ausrede für seine Gattin Gloria, die er einmal zuviel betrogen und zu häufig gedemütigt hatte.
Perplex, wie von einem durchdonnernden ICE beim unerlaubten Überqueren der Gleise eines Regionalbahnhofs überrascht, lag er nun auf dem Teppich und schnaufte in das schlotzige Reisgericht.
Sein Schädel dröhnte, schließlich war er gerade eingeschlagen worden.
Auf der ihm zugewandten Wand ihres gemeinsamen Wohnzimmers sah er im Schatten des Deckenstrahlers eine weibliche Silhouette im kurzen Kleid mühevoll die wertvolle Bronze seines geliebten Stafford "Bullet" in die Höhe stemmen.
Jener Bullett, der soeben schon einen irreversibelen Abdruck seines metallenen Hundeschädels in Boris Kopf hinterlassen hatte.
So nah war er seinem treuen Hund selbst zu Lebzeiten des Vierbeiners nicht gekommen.
Durch Nebel in die Sonne blickend sah Boris das Schattentheater mit dem Abbild des verdammten Köters in Glorias Händen immer wieder auf einen länglichen Haufen herabschnellen.
Dieser Haufen war er. Das begriff Boris schmerzlich, während sein Körper dutzendfach vom Corpus Delikti getroffen wurde. Gloria nahm sich Genugtuung.
Fast zynisch lief gerade der Walkürenritt auf den sündhaft teuren Bowers & Wilkins Boxen. Boris hatte sich Wagner zum Essen aufgelegt, natürlich en Vogue auf Vinyl.
„Der Schatten bleibt immer farblos", dachte Boris, während er sich beim Sterben zusah.
Ableben geschah für ihn meist in sattem Rot.
Und er hatte in seinem Leben schon sehr viel davon gesehen.