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geschrieben 2024 von Stephan Heider (Stephan Heider).
Veröffentlicht: 07.10.2024. Rubrik: Grusel und Horror


Kuss der Nacht

Mia blickte weinend in die Tiefe. Die bunten Lichter der Stadt spiegelten sich auf dem nassen Pflaster der Straße und wurden von ihren roten Tränen in unscharfe Kreise verwaschen, die langsam seitlich aus ihrem Sichtfeld tanzten.

Fiel eine Träne hinab, verlor sie sich schnell im Nichts. In ein Nichts, das dem in ihrer Seele ähnelte. Mia konnte nicht fassen, was ihr vorgestern passiert war und sie gestern getan hatte.

Wie konnten die Dinge nur so ausser Kontrolle geraten?

Sie war heute Nacht hier hinauf gekommen, um die Geschichte um sie, Vincent und Marco zu beenden. Ein für alle mal.

Die Bilder kamen zurück. Wie Marcos Blut von ihren Händen tropfte.

Die Schreie kamen zurück. Seine aus Angst und ihre aus Gier.

Ihr Gehirn schien ihr aus dem Kopf quellen zu wollen, so groß war der Druck in ihrem Schädel. Mia presste die Fäuste gegen ihre Augenlider, um zu verhindern, dass diese verheerenden Bilder weiter in ihrer Erinnerung abliefen.

Vergeblich.

Wie scharfe Klingen schlitzten Mias Waffen letzte Nacht den Hals des jungen Mannes auf, während sie ekstatisch nach Freiheit schrie. Berauscht von Blut. Durchgeschüttelt von unkontrollierbaren Emotionen, die ihr bisher verborgen geblieben waren.

Mia sog die kalte Luft der Nacht ein, als die Vision abebbte.

Ihr Verstand drohte sich von ihr trennen zu wollen und mit jeder Welle wurde es schwieriger zurückzukehren in jene Klarheit, die es ihr erlaubte rational zu entscheiden. Vielleicht war es das letzte Mal, dass sie die Dinge aus einer brauchbaren Metaebene betrachten konnte.

Soeben noch überrollt von einem Tsunami aus Verzweiflung wurde ihr noch ein letztes Mal klar, was sie tun musste, um nicht wahnsinnig zu werden.

Mia trat an die Dachkante und sah in den Himmel, der zerrissen schien.

Genau wie sie.

Ohne Angst ließ sie sich vornüber kippen. Sie sprang nicht, sie ließ sich einfach nur greifen von der Anziehungskraft der Erde, der sie sich nun anvertraute. Sie würde sie ansaugen und Mia zerbrechen, so wie sie es verdient hatte.

Ein Gefühl des Glücks wärmte ihren Fall, der eine kleine Ewigkeit andauerte. Dann schlug sie hart auf und fühlte sich frei.

Tony hatte Mia stürzen sehen und war an die Stelle geeilt, an der ihr Körper in die Pfütze krachte und das Wasser meterhoch hatte aufspritzen lassen.

Der junge Mann stellte schnell fest, dass Mia keine Vitalfunktionen mehr zeigte. Keine Atmung. Kein Herzschlag.

„Verdammt, du dummes Mädchen!“

Wie er es im Erste-Hilfe-Kurs gelernt hatte, massierte er in schnellen Stößen Mias Herz. Drückte ihr verzweifelt dreißig Mal den Brustkorb tief ein, bevor er ihren Kopf überstreckte und zwei Züge Atemluft in ihre Lunge presste.

Wieder und wieder.

Mia verließ ihren Körper, als die Erinnerung an die schicksalhafte Begegnung mit Vincent noch einmal aufflammte. Kaum drei Tage war sein Kuss her. Sein Kuss aus Gewalt, der sie in kürzester Zeit zu diesem verzweifelten Wesen hatte werden lassen. Der faszinierende Typ mit der blassen Haut war so schnell wieder weg, wie er aufgetaucht war. Nur diesen Kuss hatte er Mia hinterlassen, der sie seelisch zutiefst erschüttert hatte.

Tony lächelte erleichtert, als Mia die Augen aufschlug. Zärtlich legte er seine Hand unter ihren Nacken und zog sie aus der schmutzigen Pfütze an sich heran.

„Was machst du denn, Mädchen?“

Mia sah ihn mit weiten Pupillen an, legte ihre Arme um Tony, um sich voller Sehnsucht und Verletzlichkeit an diesen wunderschönen Mann zu ziehen. Sich an seine starke Schulter zu kuscheln und ihren verwirrten Kopf fest an seine Wange zu schmiegen. Seinen Duft aus Adrenalin und Schweiß tief in sich aufzusaugen.

Tony drückte Mia an sich, fest entschlossen, sie in diesem Moment zu beschützen.

„Komm her, Mädchen, ich hab dich!“

Dann schnellten ihre Reißzähne in seinen Hals und zerfetzen gierig seine appetitlich klopfende Arterie.

Nachdem ihr Durst gestillt war, ließ sie seine schlaffe Leiche an sich hinabgleiten. Schon in wenigen Minuten würde er seine Augen aufschlagen und nicht begreifen, was mit ihm passiert ist.

Solange, bis ein unersättlicher Hunger ihn in einem mehrtägigen Prozess dazu zwingt zu verstehen, was aus ihm geworden ist.

Eine weitere grausame, unersättliche Kreatur der Nacht

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