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geschrieben 2024 von Stephan Heider (Stephan Heider).
Veröffentlicht: 17.09.2024. Rubrik: Nachdenkliches


Der Wald

Der grüne Kessel strahlte beim Aussetzen des Sonnenscheins eine gewisse Schwere aus, die einem auf das Gemüt schlagen konnte. So wie manche Momente in Grimms Märchenwelten, in denen man sich als Kind aus Furcht die Bettdecke über die Nasenspitze zog.

Für uns als Reisegäste überwog das Glitzerspiel des Laubs als Wohlgefühl einer schönen Urlaubsfahrt in die sächsische Schweiz. Die Bäume winkten uns heiter zu, hier an unserem Tisch vor der „Flößer-Stube“ im Kirnitzschtal, an dem wir zu Abend aßen.
Sitzend in der Mitte einer runden Arena, von deren Rängen der alte Wald auf uns hinunter blickte. Der Wald, der alles wusste.

Die alte Frau jedoch wurde nur von den bewegungslosen Tannen dazwischen angestarrt. Die meisten glotzten stickum aus einem wehmütig grünen und schweren Mantel. Einige bestanden nur noch aus knochigem Gehölz, hatten längst ihr Kleid abgeworfen auf einen dicken, braunen Nadelteppich aus Schmerz zu ihren Füßen. Fragil und auf dem Weg bald wieder zu Erde zu werden.
Genau wie sie, diese alte Frau, die neben uns saß und deren Geschichte der alte Wald genau kannte. Die Tannen hatten gesehen, wie sie ihr bisheriges und künftiges Dasein im Kessel fristete.

Sie setzte sich an unseren Nachbartisch, eine Tafel für Sechs. Zielgenau steuerte sie schleppenden Schrittes den Kopf des Tisches an. Ihr Körper, wie ein Klappmesser, auf der Hälfte verbogen. Auf Höhe der Hüfte vornübergebeugt, der Nacken niedergedrückt vom Leben.
Die Zeit hatte sie bezwungen und persönliche Schicksalsschläge schnitzten ihr die Verhärmung tief ins Gesicht.
So nahm ich sie wahr, im Hauche eines kurzen Moments.

Sogleich eilte die Kellnerin herbei, als würde sie das Schauspiel bereits kennen. Die alte Dame bestellte einen Kaffee und verwies darauf, dass sie den großen Tisch brauchen würde, da sie ihre Familie zum Essen erwarte.

„Das freut mich, Frau Schumann, den Kaffee bringe ich Ihnen sofort“, lächelte die Bedienung freundlich.

Die Zeit verrann, wir bekamen unsere Speisen und lachten heiter, während wir sie in aller Gemütlichkeit zu uns nahmen.
Melancholie. Das war es, was die uralte ockerfarben verputzte „Flößer-Stube“ mit ihrem Schieferdach über der schwarzen Firstlattung in dieser Umgebung ausstrahlte. Trist gebettet in grauem Kies. Seit hundertfünfzig Jahren.

Frau Schumann hieß sie also, diese alte Dame am Nebentisch, die schweigend in die Weite spähte und langsam an ihrem mittlerweile kalt gewordenen Kaffee nippte. Ich hatte den Eindruck, dass sie viel zu früh war und ihre Familie eventuell den Termin eine Stunde später im Kalender stehen hatte.
Aber auch dann kam niemand!

„Ich würde gerne die Schicht an meinen Kollegen übergeben, darf ich vorher noch etwas bringen“, sprach uns die Kellnerin mit dem freundlichen Lächeln an.

„Ah, gerne noch eine Runde Helle bitte“, bestellten wir und fragten nach, ob sie eine Zwischenrechnung machen wolle.

„Nicht nötig“, erwiderte sie, „wir halten hier alle zusammen“, womit sie uns wohl sagen wollte, dass etwaiges Trinkgeld unter den Kollegen gerecht geteilt werden würde.
Nachdem sie die Runde Bier für mich und meine Freunde und für Frau Schumann noch ein Wasser gebracht hatte, verabschiedete sie sich freundlich von uns.
Für Frau Schumann, die immer noch traurig in die Ferne blickte, hatte sie sogar noch ein Streicheln ihres Handrückens und ein „bis bald, alles Gute“ über.
Die junge Frau huschte aus einer Nebentür und verschwand im Bus, der genau die Minute gewartet hatte, bis sie ihn an der Straße erreicht hatte.

„Wir halten hier alle zusammen“, dachte ich kurz und gedankenverloren blickte ich zu Frau Schumann hinüber, die seit eineinhalb Stunden schweigend auf ihre Familie wartete, die es wahrscheinlich gar nicht gab. Das war der Gedanke, der mir mittlerweile als der naheliegendste erschien. Sie tat mir unfassbar leid.
Sie war womöglich ganz allein und auf der Reise in die Demenz.
Ich spürte einen kurzen Moment, was Einsamkeit bedeutete.

Der Biergarten bevölkerte sich zusehends um, Leute kamen, aßen und tranken und gingen wieder.
Mittlerweile hatten wir schon beratschlagt, ob wir Frau Schumann nicht einfach an unseren Tisch bitten sollten, um ihr etwas Gesellschaft und Unterhaltung zu bieten. Sicher hätte sie aus einem ereignisreichen Leben erzählen können.
Aber all das waren nur Vermutungen, das Warten, die ausbleibende Ankunft der Familie. So blieb mir der Mut noch weg und bevor ich ihn fassen konnte, rollte knirschend das Taxi durch den Kies vor die Flößer-Stube.
Die junge Familie stieg heiter plappernd aus, adrett gekleidet und mit Vater, Mutter und zwei kleinen Kindern, Junge und Mädchen, sozusagen wie aus dem Bilderbuch.
Frau Schumanns Miene hellte sich auf und fast schien sie uns Lügen strafen zu wollen mit einem Lächeln, dass sagte:
“Seht her, ihr Zweifler, da ist meine liebe Familie!”
Scham hangelte sich an den Wirbeln meines Rückgrats hoch. Ich hatte mich geirrt. Hatte etwas in die Situation interpretiert, nur aus einem Gefühl heraus. Dabei war ihre Familie nur zu spät.
Eine Zeit lang sah ich bewusst weg. Frau Schumann hatte eine tolle Familie und ich eine Lektion über voreilige Schlüsse gelernt.

Wir saßen wirklich lange, hatten einige Runden, und meine Freunde und ich vergaßen mit fortschreitendem Abend die traurige Geschichte um Frau Schumann, die mittlerweile mit ihrer Familie beim Dessert angekommen war. Ich sah noch einmal hinüber und mein Blick blieb verträumt an diesen glücklichen Menschen hängen.
Die Kinder zogen die Schokoladencreme schmatzend durch die Zähne und alle lachten so herzhaft darüber, dass es mir warm wurde.

„Johann, wir schließen jetzt. Zeit nach Hause zu gehen!
Sie kommen heute nicht mehr!”

Ich spürte eine glatte, junge Hand über meinen faltigen Handrücken streichen und wurde aus meiner wunderschönen Gedankenreise gerissen. Ich blickte in das milde freundliche Gesicht der Kellnerin.

„Komisch, war sie nicht vor Stunden schon gegangen?"

Ich löste meinen leeren Blick und sah hinüber zu Familie Schumann. An der Stelle, wo sie soeben noch saß, stand ein großer Kübel mit einem wunderschön Hibiskus, der in der Dämmerung schützend seine Blüten schloss.
Ich blickte verwirrt in die Runde nach meinen Freunden.
Sie waren nicht mehr da. Ich saß an einem winzigen Tisch allein vor einem geleerten Wasserglas.
Aus dem Kessel starrten mich die finsteren Tannen unerträglich stumm an. Aus dem Wald, der mich seit siebenundachzig Jahren kannte.

Aus dem Wald, der alles wusste.

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

Einen Kommentar schreiben

geschrieben von Bad Letters am 18.09.2024:
Kommentar gern gelesen.
Wieder eine tolle und tiefgehende Geschichte aus deiner Feder Stephan Haider. Chapeau!

MfG
Bad Letters





geschrieben von Stephan Heider am 18.09.2024:

Vielen lieben Dank, Bad.
Freue mich sehr, dass sie dir gefällt.
LG Stephan

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