Veröffentlicht: 20.06.2024. Rubrik: Spannung
Fatal
Natalies Fehler war Sekundensache. Für Anna bedeutete er Ewigkeit.
Immer schon hatte Natalie ihre Jugendfreundin insgeheim beneidet.
Anna gelang in ihrem Leben einfach alles eine Spur besser.
Schule, Beruf, Liebe. Sie hatte das bessere Abi. Bekam den Job, auf den sich beide beworben hatten und den Mann, den beide liebten.
Nicht das es Natalie schlecht ging, aber ohne Anna wäre sie ein anderer Mensch, wenn man es nüchtern betrachtete.
Das einzige Mal, dass Natalie Anna nicht beneidete, war die Zeit als ihr dieser Stalker Paul nachstellte.
Ein beängstigender Einzelgänger, der schon in der Schule keine Freunde hatte. Was wohl aus ihm geworden ist? Er spinste doch ständig durch Annas Fenster und plötzlich war er verschwunden.
Natalie wusste gar nicht warum ihr dieser fatale Fehler unterlaufen war, sie liebte ihre Freundin Anna doch. Es war im Affekt passiert, ihr Unterbewusstsein sagte kurz: "Wisch ihr doch einmal eins aus, dieser perfekten Anna. Soll sie doch einmal im Leben einen unangenehmen Umweg nehmen müssen."
Nun lag sie da. Koma. Ihr Hirn war zum Platzen angeschwollen. Wegen Natalie. Sie hielt ihre Hand und flehte Gott um Vergebung an und bat ihn inständig mit Anna tauschen zu dürfen. Gott ließ sich wie gewohnt nicht blicken. Natalie blieb mit der Tragik ihres Tuns und dem Blick auf Annas schwachen Puls auf dem Überwachungsmonitor ganz allein.
Vor Jahren war Rüdiger der Traum aller Mädchen der damaligen Klasse und mit Natalie zusammen, bis Anna zu Beginn der Oberstufe auf ihre Schule wechselte.
Paul war von Anfang an Feuer und Flamme. Aber Anna hatte nur Augen für Rüdiger, der nur auf einen Impuls wartete, um seine harmlose Liebelei mit Natalie zu beenden.
Eigentlich war das alles lang her, kalter Kaffee, doch als Anna vor drei Tagen auf die Toilette ging und ihr Handy ungesperrt auf dem Tisch liegen ließ, brannte Natalie ein winziger Draht durch. Einer, der wohl lange unterschwellig geglimmt hatte.
Sie waren gemeinsam zum Essen und Anna erzählte soeben von dem bevorstehenden Malediven-Urlaub mit Rüdiger, den die Freundinnen eigentlich immer gemeinsam für sich geplant hatten.
"Ich gehe kurz für kleine Mädchen, bestell mir doch bitte das Übliche." Anna huschte zwischen den Tischen durch in Richtung der Sanitärräume.
Selbst dabei sah sie umwerfend erhaben aus.
Natalie griff nach dem Handy und öffnete WhatsApp. Bei der Lupe tippte sie "Rü" ein, als auch schon Rüdiger ganz oben als Kontaktvorschlag erschien.
Sie tippte auf seinen Namen und das Konversationsfeld öffnete sich. Natalie gab
"Ich freue mich auf dich, Paul"
ein und hing das pulsierende Herz an. Senden. Dann wartete sie bis sich die Empfangshaken blau färbten. Es dauerte nur wenige Sekunden. Natalie markierte die Nachricht und löschte sie wieder in der Sicherheit, dass Rüdiger sie kurz gesehen haben und annehmen musste, dass Anna sie versehentlich an ihn gesendet hatte.
Natalie starrte auf
"Diese Nachricht wurde gelöscht"
und bereute ihre Dummheit noch in der Sekunde. Sie nahm sich vor sofort alles aufzuklären.
Dazu kam es nicht.
Als Anna zurückkehrte, war sie völlig aufgelöst. "Verdammt nochmal, Natalie, hast du bemerkt, wer am Nebentisch sitzt? Ich kann das nicht!"
Sie griff nach ihrer Jacke, steckte ihr Handy ein und verließ überstürzt das Restaurant, ohne auf Natalies Antwort zu warten.
Natalie schaute ihr verblüfft nach, drehte sich zum Tisch hinter ihr und blickte in die starre Fratze von Paul, kaum zwei Meter entfernt. Natalie fiel die wenige Farbe aus dem Gesicht, die ihr nach ihrer fatalen WhatsApp Aktion noch geblieben war.
Als Annas Herz drei Tage später stehen blieb, schrie Natalie sich, von Unfassbarkeit überrollt, aus dem Bewusstsein. Das konnte doch alles gar nicht wahr sein. Was hatte sie nur getan.
Sie hatte Rüdiger zum Mörder gemacht. Schuldig, Anna aus Eifersucht erschlagen zu haben.
Natalies Nervenzusammenbruch dauerte mehrere Tage. Als sie gedankenverloren das Krankenhaus verließ und auf die Straße trat, wurde ihr Körper wuchtig aus ihren Schmerzen geschlagen.
Sie war schwerelos. Flog lange verdreht durch die Luft. Ihr erlöschender Blick huschte kurz an der Windschutzscheibe vorbei, hinter der die verkniffene Fratze Pauls hart grinste. Den Aufschlag ihres schlaffen Körpers auf der Strasse erlebte Natalie nicht mehr.
In dem Moment hatte sie bereits Anna im Arm und bat sie um Vergebung.
Natalie schreckte schweißgebadet auf. Anna hielt ihre Hand und sagte mild: Meine Güte, Liebes, was hast du denn geträumt?. Komm, zieh dich an, wir gehen frühstücken. Wir sind doch nicht auf den Malediven, um den ganzen Tag zu verschlafen."
Natalie zog Anna zitternd an sich und umarmte sie für eine kleine Ewigkeit.