Veröffentlicht: 18.10.2024. Rubrik: Unsortiert
Halbdistanz
Auf der schattigen Holzbank neben der kleinen weißen Kirche ist noch genügend Platz für eine weitere Person. Ich gehe darauf zu, zeige auf den freien Sitz, und frage, ob ich mich neben den Mann setzen darf, der dort fast täglich nachmittags sitzt, ein älterer Herr, vom Typ her südländischer Herkunft. Ich habe noch nie eine andere Person neben ihm sitzen sehen, dies wäre mir aufgefallen, denn ich komme oft hier vorbei. Ein schöner Blick von dort, hinüber zur Düne und weiter zum nahen Strand. Er nickt freundlich, wirkt aber nicht sehr gesprächig, eher in sich gekehrt. Im Gegensatz zu mir, denn ich habe aktuell das Bedürfnis, mich jemandem mitzuteilen.
Dies kommt phasenweise in mir hoch, jetzt, da ich Rentner bin und seit dem Tod meiner Frau alleine lebe. Freunde oder nahe Verwandte habe ich in meinem Umfeld nicht. Ich bin einer von denen, die unauffällig ihr Dasein fristen, fast unbemerkt vom Rest der Welt. Es ist ein Leben in sozialer Halbdistanz, ich habe lernen müssen, meine Gefühle zu dosieren. Und meine Kommunikation besteht größtenteils aus Höflichkeitsfloskeln im Treppenhaus oder an der Supermarktkasse. Über meine Befindlichkeit würde ich mit meinem Sitznachbarn vor der Kirchentür gerne reden. Und wonach es anfänglich nicht ausgesehen hatte, es kommt ein Gespräch zustande. Der Mann spricht nur wenig, möglicherweise, weil Deutsch nicht seine Muttersprache zu sein scheint, trotzdem gut verständlich. Die Gespräche auf der Bank vor der Kirche werden zum täglichen Ritual. Jedes Mal, wenn ich mich zu ihm setze, blüht unser Dialog ein wenig mehr auf. So erzähle ich aus meinem Leben, auch von gemeinsamen früheren Reisen mit meiner Frau. Bei diesem Thema wirkt er aufgeschlossener, erzählt von seiner Heimat Griechenland, die er immer noch vermisst. Das ist das Stichwort für mich.
Ich beschreibe Erlebnisse aus einer Urlaubsreise von vor dreißig Jahren in Griechenland, eine Zeit voller unvergesslicher Momente, als ich mit meiner Frau dort unterwegs war. Ganz besondere Erinnerungen gehören einer Nacht in einem kleinen Dorf auf der Insel Kreta. Wir feierten mit den Einheimischen, und irgendwann zog mich eine alte Frau an ihre Seite. Sie erzählte mir eine Geschichte des Dorfes, von einem schrecklichen Unglück, das etliche Jahre vorher passiert war: Ein Schiff, das dicht vor der Küste sank und viele Menschen des Dorfes mit sich in die Tiefe riss.
Mein Nachbar schaut mich eindringlich an, als ich die Szene beschreibe, von der mir die alte Frau seinerzeit berichtete. Und nun wird er lebhafter, er fragt nach Einzelheiten, denn von solch einem Ereignis hatte ihm sein Vater erzählt, aus dessen Kindertagen. Dies führte zu einem Trauma bei den Dorfbewohnern, das lange nachwirkte. Es folgt ein längerer Moment des Schweigens. Dann die Vermutung, dass solch eine Erinnerung ihn unterschwellig geprägt haben könnte. Für mich lediglich eine traurige Erinnerung anlässlich einer Reise; in seinem Unterbewussten aber hängt das Trauma anscheinend fest. Mein Gesprächspartner schließt nicht aus, dass darin ein Grund für seine regelmäßig wiederkehrende Melancholie liegen könnte, verbunden mit dem Wunsch zur Stille.