Veröffentlicht: 31.08.2024. Rubrik: Unsortiert
Durchblick
Dass das Jahr 1972 länger dauerte als jedes andere seit der Einführung des gregorianischen Kalenders vor über vierhundert Jahren, war mir zu dem Zeitpunkt nicht bekannt. Wie ich erfuhr, war es nicht nur ein Schaltjahr und zählte daher 366 Tage. Die Erklärung war, es musste zusätzlich noch eine geringe Unstimmigkeit in der Erdrotation ausgeglichen werden. Diese hält sich nämlich nicht an unsere Zeitmessung; denn mal dreht sich die Erde schneller, mal etwas langsamer als unsere Uhren anzeigen - überwiegend aber langsamer. Das war der Grund für die damalige Korrektur der aufgelaufenen Differenz von zwei Schaltsekunden - für mich eine zu vernachlässigende Zeitspanne. Für die Ausübung meines Berufs als Fensterputzer denke ich in anderen Zeiteinheiten, wenn ich mich darum kümmere, dass ich überall, wo ich hierfür beauftragt werde, für einen ungehinderten Durchblick sorge. Und in jenem Jahr wurde eine ebenfalls kurze Zeitspanne, genauer eine von fünf Minuten, für mein zukünftiges Weltbild bedeutsam.
Es geschah an dem Tag, als der 'Club of Rome' seine Studie über die Grenzen des Wachstums veröffentlichte. Dies geschah im schweizerischen St. Gallen, wo ich zu dem Zeitpunkt die großen Fenster des Kongresszentrums putzte, hinter denen die entscheidende Tagung vor der Veröffentlichung stattfinden sollte. Normalerweise verschaffe ich meinen Auftraggebern mit meiner Tätigkeit einen klaren Durchblick von Innen nach Außen. In dieser Situation nutzte ich in einer Verschnaufpause die klare Sicht als Betrachter von außen, und sah so in einem der Tagungsräume in großen Buchstaben auf einem Flipchart: 'Es ist fünf vor zwölf'. Donnerwetter! Natürlich wurde mir der Zusammenhang irgendwann klar und beeinflusste fortan meine Einstellung zum sich verändernden Zustand unseres Planeten.
Diese epochale Aussage begleitete mich künftig bei meinen vielen Einsätzen als Mitglied einer Wartungstruppe, die regelmäßig für internationale Großveranstaltungen gebucht wird, um für einwandfreie Bedingungen in Bezug auf Reinlichkeit zu sorgen. Auf diese Weise erlebte ich unter anderen viele internationale Klimakonferenzen aus der Nähe. Ich hörte irgendwann auf, mir die Themen der einzelnen Klimagipfel zu merken, es fanden einfach zu viele statt - die Devise blieb dieselbe: 'Es ist fünf vor zwölf'. Da hatte jemand vermutlich vergessen, dass Zeit ein dynamischer Faktor ist und beließ es dabei. Ich hatte dies an dieser Stelle nicht zu kommentieren, ganz gleich, ob ich in Rio, Kyoto, Berlin oder Madrid bei den jeweiligen Veranstaltungen meinen Job verrichtete. Ich blieb ein Normalbürger, wenn auch einer mit Nähe zu diesen Events.
Dann die letzte Klimakonferenz 2023 in Dubai, wo man die Abkehr von fossilen Brennstoffen beschließen wollte, nach wie unter der öffentlichen Einschätzung des ominösen Ultimatums von 'Fünf Minuten vor zwölf', welches die Weltöffentlichkeit allerdings nur noch als wenig seriös wahrnahm, da die Klimakatastrophe auf unserem Planeten kaum noch zu verhindern ist. Und dann, an meinem letzten Arbeitstag in Dubai, wurde ich beim Abseilen von den hohen Fensterfronten Zeuge, wie es in einem der kleineren Gruppenräume, es war der Raum des Inselstaats Vanuatu, zu einem Tumult kam. Offizielle des Veranstalters wollten die Gruppe dieser Südseeinsulaner daran hindern, ein großformatiges Plakat mit der Aufschrift, 'Es ist fünf nach zwölf', aus ihrem Raum ins Plenum zu bringen. Und gleich unter dem Slogan hatten die klugen Insulaner hinzugefügt : 'Der Mensch ist die Endlichkeit des Menschen'.