Veröffentlicht: 16.08.2024. Rubrik: Unsortiert
Hypochonder
Als Hypochonder hört man förmlich das Gras wachsen. Häufig wird solch ein Mensch voreilig als neurotischer Spinner abgetan. Allerdings gibt es nicht selten welche, deren stark ausgeprägte Sensorik anderen Menschen zunutze sein kann. Von denen bin ich einer. Im Laufe meiner Lebensjahrzehnte habe ich sie alle gehabt, alle gängigen Krankheiten und Seuchen, sowie jene, die gerade en vogue sind. Natürlich litt ich nur in meiner Einbildung, rein symptomatisch, denn ich bin laut ärztlicher Einschätzung kerngesund, körperlich jedenfalls.
Mein Leben sollte sich jedoch grundlegend ändern. Im Anschluss an eine Routineuntersuchung erhalte ich die Diagnose eines nicht heilbaren Tumors. Dies wäre der erste Krankheitszustand, von dem ich vorab nichts gespürt hätte. Das kann doch wohl nicht wahr sein! Aber statt in Verzweiflung, stürze ich mich ins vergnügliche Leben, komplett ohne Symptome und auch sonst quicklebendig, ich blende den ärztlichen Befund ganz einfach aus und beschließe, nicht zu leiden. Und dann kommt's. Nach einigen Wochen erhalte ich die Nachricht, dass die Ergebnisse der Untersuchung durch eine Verwechslung in der radiologischen Administration fälschlicherweise meinen Patientendaten zugeordnet wurden. Na also - sag ich doch. Nur, das bedeutet, irgendein bedauernswerter Mensch läuft die ganze Zeit mit dem irrigen Glauben durchs Leben, kerngesund zu sein, oder auch nicht mehr, weil er bereits an seinem Tumor gestorben ist. Dieser Aspekt bedrückt mich zutiefst, ich falle in eine Sinnkrise, in deren Verlauf ich irgendwann feststelle, wochenlang keinerlei Krankheitssymptome mehr verspürt zu haben, sehr ungewöhnlich für mich. Ich bin offensichtlich geheilt, bin kein Hypochonder mehr. Aber um welchen Preis? Das Schicksal des anderen mit meiner Originaldiagnose verfolgt mich massiv. In mir erwacht nun der dringliche Wunsch, anderen Menschen in gesundheitlichen Krisen beizustehen.
Die folgenden Monate und Jahre sehen mich als 'Pseudo-Patient' in Wartezimmern diverser Arztpraxen. Ich halte mich dort viele Stunden auf, ohne ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen zu wollen, ich bin ja gesund. Außer meinem überwundenen Hypochonder-Status habe ich nicht viel medizinisch Verwertbares anzubieten, und so nähere ich mich, anfangs zögerlich, dann immer intensiver, den anderen dort Wartenden, besonders denen, die mit ihrem Leiden zu hadern scheinen - ich werde zu einem 'Wartezimmerflüsterer', der seinen 'Klienten' empathisch zuhört. Erfahrungen mit Symptomen und Diagnosen aus meinem Leben mit den vielen Phasen des Leidens schaffen eine vertrauensvolle Gesprächsbasis, ich erreiche so erstaunlich viele gesprächsoffene Menschen. Dies kommt gut an bei den meisten Kranken und Ratsuchenden, denn ich plaudere nicht nur belanglos drauflos, sondern ich höre auch zu, und zwar anhaltend zugewandt, und immer sehr geduldig.
Auf die Dauer bleibt meine 'Beratungstätigkeit' vom medizinischen Personal nicht unentdeckt, was zur Folge hat, dass mich einige von ihnen ihrer Räumlichkeiten verweisen, ich werde als Spinner verunglimpft. Diejenigen unter den Ärzten und Helfern, die meine Vorgehensweise genauer betrachten, stellen erfreut fest, dass ihren Patienten, also meinen 'Klienten', durch mein Einwirken vielfach Ängste genommen werden, sie weniger Nervosität zeigen und anschließend viel entkrampfter und besser informiert in die Behandlung gehen. Ich weiß es genau, ich wurde anfänglich oftmals nur geduldet, blieb aber beharrlich bei der Sache, und der Erfolg gibt mir recht, ich werde im Laufe der Zeit anerkannt, mein Wirken als 'Wartezimmerflüsterer' hat einen positiven Einfluss auf die Stimmung in vielen Arztpraxen meiner Heimatstadt.