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3xhab ich gern gelesen
geschrieben von rubber sole.
Veröffentlicht: 07.06.2024. Rubrik: Unsortiert


Schwerkraft

Mit den Folgen eines kollektiven Traumas muss unsere Familie seit vielen Jahren umgehen. Das Stichwort ist Flugangst. Auf einem lange zurückliegenden Flug an die seinerzeit noch jugoslawisch genannte Adriaküste geriet der von uns gewählte Ferienflieger in eine heikle Situation. Irgendwo über den österreichischen Alpen flog die Maschine in schwere Turbulenzen hinein und gleichzeitig wurden die Passagiere durch aus dem Cockpit ausströmenden Rauch in Angst und Schrecken versetzt. Als sich das Kabinenpersonal passend dazu auf ihre Sitze begab und sich anschnallte, kam Panik auf. Diese hätte vermieden werden können, wenn der Pilot rechtzeitig über die tatsächliche Lage aufgeklärt hätte: Eine CO2-Flasche war hochgegangen, das austretende, ungefährliche Gas zog als Dampf durch die Kabine, ein eher harmloser Vorfall.

Für meine Mutter und meine beiden älteren Schwestern war dies der Start in ein Leben mit kaum zu beherrschender Flugangst. Mein Vater, ein mental robusterer Typ, konnte dieses Trauma beherrschen, indem er kein Flugzeug mehr unter 2‰ Blutalkohol bestieg. Mich belastete die damalige Situation überhaupt nicht. Im Gegenteil. Ich fand es spannend, dass sich ein Stück fliegendes Metall der Schwerkraft entzog und letztlich nicht abstürzte. Die Gründe hierfür waren mir als achtjährigen Jungen wurscht. Ich entwickelte in der Folgezeit ein spezielles Verhältnis zu großen Höhen und Schwerkraft. Die an Wänden und Zimmerdecken krabbelnden Fliegen und Geckos wurden zu meinen Helden in der Tierwelt. Und möglicherweise hatte Isaac Newton in seiner Theorie über die Gesetzmäßigkeiten der Gravitation etwas übersehen.

Wie alle Jungen meines Alter kletterte ich gerne auf hohen Bäumen herum. Zusätzlich empfand ich es als große Freude, auf Dachfirsten entlangzugehen und ungesichert lange Strecken auf hohen Brückengeländern herumzuspazieren. Ich war dabei keineswegs als Endorphin-Junkie unterwegs, ich tat es einfach, weil ich es konnte. Andere Menschen gehen ja ebenerdig genauso sicher auf Fußwegen aller Art. Ich gebe allerdings zu, ich entwickelte ein Lustgefühl beim freien Fall, z. B. bei einem Kopfsprung vom Zehnmeter-Turm im Schwimmbad. So geschah es nicht überraschend, dass ich mich in späteren Jahren der Sportart Freikletterei zuwandte – die erforderlichen körperlichen Voraussetzungen trainierte ich mir an. Viele Jahre lang nahm ich an keinerlei Wettbewerb teil, ich war ausschließlich in eigener Sache unterwegs.

Dann die Ausnahme. Der höchste Wolkenkratzer der Welt war gerade von einem französischen Kletterer ohne Hilfsmittel bezwungen worden. Ich wollte einen drauf setzen und nahm mir die weltweit höchste Bauruine eines fast gleich hohen Hauses als Zielobjekt vor. Es war einer der vielen unvollendeten Wolkenkratzer in China, an dem ich letztlich scheiterte, ich stürzte in Höhe der 39. Etage ab, als ich für den Bruchteil einer Sekunde den Idealhalt nach Art eines kletternden Geckos verfehlte. Freier Fall war die Folge. Aber lange nicht so aufregend wie einer meiner frühen Sprünge im Freibad. Schon nach wenigen Sekunden wurde ich von einer Sicherungsvorrichtung aufgefangen. Eine solche Einrichtung hatten die chinesischen Behörden vor Genehmigung meines Klettervorhabens zur Bedingung gemacht.

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von Bad Letters am 08.06.2024:
Kommentar gern gelesen.
Jedes Trauma findet seinen Anfang rubber, bei mir ist beim Fünfmeter Brett Schluss, nachdem ich als Kind mal in einer Felswand stecken geblieben bin.

MfG
Bad Letters


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