Veröffentlicht: 28.06.2024. Rubrik: Unsortiert
Gescheitert
Das hat mir gerade noch gefehlt. Die Wirkung der Narkosemittel hörte auf, ich befand mich auf dem Weg in einen wieder klaren Geisteszustand, falls so etwas bei mir überhaupt noch möglich sein sollte. Ich wurde auf dem Rollbett durch die Gänge und Etagen des großen Klinikums geschoben, total verwirrend das Ganze, bis ich mich wieder in meinem Zimmer befand.
Und die erste Person, die dort auf mich wartete, war meine Ex-Schwiegermutter. Ausgerechnet. Ich hatte zwar nach meiner Scheidung immer noch ein gutes Verhältnis zu dieser empathischen Frau, die einfach jeden unaufgefordert umarmen muss. Aber in meinem aktuellem Zustand konnte ich sie überhaupt nicht gebrauchen, eher niemanden, außer dem Pflegepersonal - situationsbedingt. Und es wurde genauso nervtötend, wie von mir vermutet. Sie strich mir in ihrer liebevollen Art zartfühlend über Kopf und Arme, sie säuselte mich mit ihrer Anteilnahme zu, nicht gekünstelt, wie ich wusste. In meiner Lage hätte ich allerdings eher einen Psychotherapeuten benötigt, so sehr war ich am Boden. Mehrere Wochen hatte ich bereits hier in der Uni-Klinik verbracht. Zunächst zur Diagnose, dann zur Akutbehandlung, anschließend zur Notoperation. Und nun vollgedröhnt mit Medikamenten, um mich irgendwie am Leben zu erhalten.
Ich vernahm ein einfühlsam vorgetragene Gedicht. „Das wird dich aufmuntern, du magst doch Goethe so sehr“, hörte ich sie sagen, als sie auch schon mit ihrer wohltönenden Stimme den 'Schatzgräber' akzentuiert vorzutragen begann. Sie hätte besser meine Krankenakte studieren sollen, bevor sie mich mit diesem Loser von einem lyrischen Ich behelligte. „Arm am Beutel, krank am Herzen...“, ich konnte es nicht ertragen, denn genau dies war mein Problem. Genau solch ein trostloses Leben, wie jenes dieses armen Zeitgenossen in des Dichterfürsten Gedicht habe ich die letzten Jahre geführt - und bin daran krachend gescheitert. Ich hatte lange Zeit gehofft, mein immer schwerer zu ertragenes Dasein verbessern zu können. Dies aber funktionierte nicht. Und mir wurde, anders als im Gedicht, keine Lösung angeboten, obwohl ich, fast wie in dessen Versen, quasi mein Blut dafür hergegeben hatte. Und das nicht, um reich zu werden, nein, ich wollte nur existieren, um mein Ding durchziehen zu können. Für meine missliche Lage gebe ich niemanden die Schuld, ich habe es mir selber eingebrockt, indem ich wie festgenagelt der Idee folgte, ich wäre ein begnadeter Dichter und Schriftsteller. Und mich begleiteten auf dem Irrweg dorthin nicht nur Alkohol und andere Substanzen. Voller Inspiration hatte ich alles für die Erreichung meines Ziels hergegeben. Beruf, Familie, und letztlich mein gesamtes Vermögen, von dem ich lange Zeit zehrte, denn ich konnte aus dem Vollen schöpfen, aus dem Erbe meiner Eltern. Doch irgendwann war auch das aufgebraucht. Als dann noch mein Haus zwangsversteigert wurde, sah ich ich mich in einer ähnlichen Rolle wie der 'Arme Poet' in Spitzwegs berühmtem Gemälde enden.
Selbst da fand ich immer noch keinen Absprung aus dieser Abwärtsspirale. Ich verschuldete mich. Um an Geld zu gelangen, wurde ich schließlich zum Probanden für neu entwickelte Medikamente in diversen medizinischen Studien. Ich nahm irgendwann an so vielen teil, dass ich sie nicht mehr unterscheiden konnte. Mein Inneres glich bald einem pharmakologischen Irrgarten. Und ich schrieb weiter, jetzt nur noch vom Wahn getrieben. Dann war ich am Ende, wurde zu einem Wrack, ich kollabierte. In solch einem Zustand lieferte man mich in die Notfallambulanz der Klinik ein, wo ich soeben aus dem Koma erwacht bin. So wie ich mich kenne, werde ich irgendwann wieder zu schreiben beginnen. Das mit dem Unterhalt wird sich schon regeln lassen. Selbst eine Unterstützung durch meine frühere Schwiegermutter schließe ich dabei nicht aus. Ich würde mir als Gegenleistung sogar mit Allegorien befrachtete Gedichte berühmter Dichter von ihr anhören.