Veröffentlicht: 06.08.2024. Rubrik: Unsortiert
Doppelspiel
Als wissenschaftlicher Außendienstmitarbeiter für ein bedeutendes Beratungsunternehmen könnte ich in meinen mittleren Jahren eigentlich in Zufriedenheit leben, der berufliche Erfolg verschafft mir materielle Sicherheit, mein Familienleben ist bestens organisiert. Gleichwohl, meine Lebenssituation fühlt sich neuerdings nicht mehr gut für mich an. Dies ist der Tatsache geschuldet, dass ich seit mehreren Jahren ein Doppelleben führe. Auf der einen Seite habe ich eine offizielle Familie mit meiner Ehefrau Clara und zwei Kindern, auf der anderen Seite eine zweite, eheähnliche Beziehung mit Sophie; beide wissen nichts von der Existenz der anderen Familie.
Jahrelang habe ich es geschafft, mein Doppelleben geschickt voneinander zu trennen, ich konnte bislang gut mit meinen perfekten Täuschungsmanövern umgehen. So jonglierte ich geschmeidig zwischen den Anforderungen meiner beiden Familien, indem ich die geografischen Distanzen der Außendiensttätigkeit als Ausrede nutzte. Jede Familie glaubte, dass ich berufsbedingt oft unerreichbar unterwegs bin - weder Clara noch Sophie ahnen etwas von meinem Doppelspiel.
Neuerdings plagen mich Zweifel, ich stelle mein Leben infrage, was bis dahin für mich überhaupt nicht vorstellbar war. Aktuell aber fühle ich mich zunehmend von der ständigen Lüge erdrückt, die moralische Belastung und das Gefühl, zwei Leben gleichzeitig zu leben, zermürben mich allmählich. In einem Moment der vermeintlichen Klarheit meiner Gemütslage entscheide ich, die außereheliche Beziehung zu beenden und mich auf meine offizielle Familie zu konzentrieren. Ich glaube, dass dies der erste Schritt sein könnte, meine integren Werte wiederzufinden und das Chaos, das ich geschaffen habe, zu beseitigen. Möglicherweise sind dies auch nur Anwandlungen einer vorher von mir so nicht festgestellten Midlifecrisis. Um herauszufinden, wie es tatsächlich um mich steht, nehme spontan einige Tage frei, in denen ich mein lange zurückliegendes Singledasein wieder aufleben lasse, im Grunde ein Junggesellenabschied der etwas anderen Art: Auf unterhaltsame Nächte folgen Zeiten der Reflexion, in denen ich meinen Wendepunkt dann endgültig festzurre – ich bin dabei nicht wenig stolz auf meine Entscheidungskraft.
Direkt im Anschluss an diese Auszeit fahre ich voller Elan und guten Willens zu Sophies Wohnsitz, um mit ihr über meine Entscheidung zu sprechen. Ich bin nervös, aber weiterhin fest entschlossen. Doch als ich dort ankomme, werde ich Zeuge einer Szene, die mich vollkommen schockiert: Meine Ehefrau Clara steht zusammen mit Sophie vor dem Haus, in dem diese lebt. Die beiden Frauen scheinen mehr als nur vertraut miteinander zu sein, eher innig verbandelt; sie lachen und umarmen sich zärtlich. Dann betreten sie Sophies Wohnung und schließen die Tür hinter sich.
Ich bleibe fassungslos im Auto sitzen, unfähig zu begreifen, was ich gerade gesehen habe. Die Möglichkeit, dass meine Frau und meine Geliebte sich kennen könnten, hab ich nie in Betracht gezogen, schon gar nicht, dass zwischen ihnen ein intimes Verhältnis bestehen könnte. Langsam dämmert mir, dass Clara von meiner Affäre gewusst haben könnte und ihr eigenes Geheimnis hatte. Die Gedanken rasen durch meinen Kopf: Haben die zwei mich die ganze Zeit verarscht? Ich fühle mich betrogen, ich bin verwirrt, und, ich bin zutiefst verletzt.