Veröffentlicht: 27.09.2024. Rubrik: Unsortiert
Getrennt
Ein tragisches Unglück bestimmte das Leben eines Zwillingspaares, als deren Eltern tödlich verunglückten, sie wurden daraufhin getrennt adoptiert. Für das eine Kind bedeutete dies ein Leben in den USA bei neuen Eltern, die wohlhabend waren und streng in der Erziehung. Hier wuchs der Waise wohlbehütet und nach strikten Regeln auf, mit dem Schwerpunkt Bildung und Disziplin als wichtige Prinzipien. So wurde ein Bewusstsein geschaffen, das in Verantwortung mündete, denn dieses Kind würde später ein florierendes Handelsunternehmen weiterführen müssen. Als Erbe dieses Vermächtnisses formten ihn die Erwartungen der Eltern und die Normen der Gesellschaft, er passte sich an, lebte korrekt und erfolgreich, jedoch ohne viel Raum für persönliche Freiheit oder Träume. Kurz, sein Leben verlief in geordneten Bahnen, wie es von ihm erwartet wurde.
Der andere Zwilling durchlebte ein ganz anderes Schicksal. Er wurde von einer Familie aufgenommen, die weniger Wert auf materielle Sicherheit, aber viel auf Kreativität legte. Sein neues Zuhause war nicht durch Luxus, sondern durch künstlerische Ambitionen geprägt. Da er bereits in jungen Jahren vielversprechendes Talent für die Malerei zeigte, wurde dies gefördert und er entwickelte sich später zu einem gefeierten Künstler. Sein Leben als junger Maler war wild, unkonventionell und geprägt von ständiger Bewegung, im Lebensstil eines Bohemiens. Dieses unstete Leben trieb ihn lange Zeit um, vielfach mit häufig wechselnden Beziehungen und verlor sich bisweilen in Exzessen. Er fand jedoch immer wieder zur Kunst zurück. Sein Werk spiegelte sein bewegtes Innenleben wider, und er wurde unter anderem durch seinen freien Geist und seine unverwechselbare Ausdrucksweise bekannt.
Erst im hohen Alter, als beide Männer längst ihren Platz in ihrer jeweiligen Welt gefunden hatten, kreuzten sich ihre Wege wieder. Der Künstler hatte eine bedeutende Ausstellung im Museum of Modern Art in New York, eine Vernissage, die Kunstliebhaber aus aller Welt anzog. Der erfolgreiche Geschäftsmann, inzwischen im Ruhestand, wurde von einem Bekannten zu dieser Ausstellung eingeladen und blickte auf die Welt der Künste, die ihm fremd war. Doch die Werke eines bestimmten Malers faszinierten ihn auf eine unerklärliche Weise. Als die zweieiigen Zwillinge sich zufällig begegneten, ahnten sie nicht, dass sie Geschwister waren. Sie entwickelten in einem Gedankenaustausch ein unerwartetes Gefühl der Vertrautheit, das keiner von ihnen deuten konnte. Es gab zwar äußere Ähnlichkeiten in Bezug auf Größe, Körperhaltung, Bewegungsmuster und Gestik, aber die unterschiedlichen Schicksale hatten die Ähnlichkeiten weitgehend überdeckt. Erst nach etlichen Nachfragen und vielen zufälligen Hinweisen erkannten sie die Wahrheit. Eine alte Narbe an der Stirn des Künstlers, die vom Unfall herrührte, wurde zum Schlüssel des Rätsels. Stück für Stück setzten sie die Puzzleteile zusammen: alte Erinnerungen, die getrennte Adoption im Vorschulalter, der unerklärliche Verlust eines Teils von sich selbst.
Zu sagen, dass sich die Zwillinge übergangslos in einem engen Zusammengehörigkeitsgefühl wiederfanden, würde einen falschen Eindruck erwecken. Vieles blieb lange Zeit schwer verständlich, brachte aber bei beiden eine ungewöhnliche Ruhe mit sich. Trotz ihrer unterschiedlichen Lebensumstände schien eine starke Verbindung zwischen ihnen zu bestehen, die die Zeit überdauert hatte.