Veröffentlicht: 29.09.2024. Rubrik: Menschliches
Bad diplomatisch
Meine Gedanken hängen noch den Herausforderungen des Tages nach, als ich zu Hause eintreffe. Meine Frau sitzt bereits am Esstisch und trinkt ihren Feierabend Kaffee, wie sie es immer zu tun gedenkt, wenn sie ihren beruflichen Feierabend einläutet. Ihr Gesichtsausdruck verdrängt schnell meine Gedanken über Projektprobleme, die zwar dringend einer Lösung bedürfen, um die Deadline zu halten, aber ihr Gesichtsausdruck schreit geradezu nach Aufmerksamkeit und einer warmen Umarmung. Es bedarf nicht vieler Worte zwischen uns, denn wir kennen die Belastungen unserer Berufe nur zu gut, sodass wir schnell durch sind mit den Arbeitsthemen, bevor wir uns den wirklich wichtigen Dingen widmen. Uns!
Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass es doch noch etwas zu früh für ein Glas Wein wäre, während mein Stresspegel versucht, mir das Gegenteil zu verklickern. Die Vernunft gewinnt und so gieße ich mir einen Früchtetee auf. Mit der Handlung durchströmt mich ein erster und leichter Anflug von Beruhigung, den ich willkommen heiße. Wir wechseln mit unseren Getränken die Örtlichkeit und setzen uns auf die Couch, reden kurz über die Dinge, die wir für den Rest des Tages noch planen. Wie nicht anders zu erwarten, hatte ich natürlich vergessen, dass sie am frühen Abend noch zu ihrer Freundin fahren möchte, weil die beiden sich lange nicht gesehen haben. Ich vergesse solche Dinge grundsätzlich, während alles, was mit Projekten zu tun hat, wie zementiert in meinem Gedankentresor abgelegt ist. Meine Süße verzeiht es mir mit einem flüchtigen Kuss und erinnert mich daran, dass sie kein Abendessen vorbereitet hat.
Überraschenderweise vernehme ich Geräusche aus dem Zimmer der Kleinen, die ich um die Uhrzeit eigentlich in der Muckibude wähne. Ich werde kurzerhand aufgeklärt, dass ich mich mal wieder im Tag irre und auch dieser Fauxpas wird mir mit einem herzlichen Lächeln vergeben. Während ich meinen Tee schlürfe, überlege ich, was ich mit der Tatsache, dass ich den Abend wohl allein verbringen werde, zu tun gedenke. Mein Magen erinnert mich daran, dass er jetzt doch gerne Mal etwas zu sich nehmen würde. In der Hektik des Tages ist die Nahrungsaufnahme einfach auf der Strecke geblieben. Ich könnte mir fix eine Stulle schmieren, entscheide mich dann aber dazu, erst mal das Kleine knuddeln zu gehen und abzufragen, wie ihre Planung des Abends ausfällt.
Ein gequälter Blick empfängt mich und kein Lächeln schmückt ihr zartes Gesicht, als ich den Kopf zur Tür hereinstrecke, um mich zu erkundigen, wie es ihr geht. Mein Alarm schaltet sich augenblicklich ein und ich nehme mir vor, so wenige Fragen wie möglich zu stellen, um Konflikten aus dem Weg zu gehen, die wie aus dem Nichts auftauchen können, ohne sich später einer Schuld oder eines Auslösers bewusst zu sein. Meine Umarmung wird zumindest erwidert und ihre Lippen vergessen auch nicht, meine Wange zu herzen. Ein voller Erfolg, wie ich angenehm abspeichere und der mich ermutigt, die Frage nach dem Abendessen zu stellen.
„Was kocht Mama?“ fragt sie und ich bemerke wieder, dass sie Eigenschaften von mir übernommen hat, die sie bei der Geburt lieber hätte liegenlassen sollen. „Mama kocht heute nicht, sie fährt gleich zu Julie! Wir müssen also etwas bestellen!“ wird meine Information vorerst regungslos aufgenommen. „Wo?“ fragt das Kleine. „Keine Ahnung, schlag etwas vor!“ „Keine Ahnung!“ „Dann sind wir schon zu zweit!“ “Italiener?“ wirft sie in den Raum. „Welcher?“ „Rom oder Napoli?“ „Die haben beide nur Pasta und Pizza, die kommt mir schon zu den Ohren raus! Können wir nicht auch bei Venedig, die haben wenigstens auch Pommes und Fleischgerichte?“ mache ich einen Gegenvorschlag. „Nein!“ Und es bilden sich langsam düstere Gesichtszüge.
„Wieso, nein?“ frage ich nach. „Da schmeckt die Bolognese nicht!“ „Dann nimm etwas anderes!“ „Will ich aber nicht!“ und die dunklen Wolken werden dunkler. „Ich möchte aber nicht andauernd das gleiche Essen müssen, nur weil dein gesamter Speiseplan nur aus drei Gerichten besteht, die möglichst immer exakt gleich schmecken müssen!“ „Dann esse ich halt gar nichts!“ und der Vulkan in ihr fängt an zu brodeln. „Hör mal, die Welt dreht sich nicht nur um dich und ab und zu, nur ab und zu, muss man auch mal Kompromisse eingehen! Letztens hast du auch bei Venedig mitbestellt und fandst es lecker!“
„Letztens ist nicht heute!“ und ich spüre schon die Hitze des Vulkans. „Ich möchte von denen heute aber nichts bestellen, Kleines!“ Und diesmal lege ich einen etwas bestimmteren Ton in meine Stimme. „Dann lass mich doch in Ruhe, ich will nichts!“ und der Vulkan wird entpfropft und es fließen Ströme von Lavatränen aus ihren wunderschönen Augen, die mir augenblicklich das Herz zerreißen!
Ich gehe vorsichtig um den Schreibtisch herum, in der Hoffnung, noch etwas retten zu können, werde aber widerwillig abgewiesen. „Lass mich!“ Doch meine Beharrlichkeit ist stark und einfach das Feld zu räumen, keine Option. „Hey Kleines, was ist denn wieder los, dass du so reagierst. Ich will dir doch gar nichts und es geht nur ums blöde Essen! Deshalb muss man doch nicht weinen und vor allem nicht streiten.“ „Doch!“ kommt es mir trotzig entgegen. „Nein, muss man nicht. Es gibt Gründe, worüber man streiten kann, aber nicht darüber, wo man Nudeln bestellt. Also, was ist los, dass du so reagierst? Es ist ja schließlich nicht so, als wenn ich dich erst seit gestern kennen würde!“ und dabei senke ich meine Stimme und versuche den fürsorglichen Dad Ton zu finden, nicht ohne sie gleichzeitig in den Arm zu nehmen. Ich spüre kurz eine Abwehrhaltung, die sich zum Glück schnell auflöst. „Probleme in der Schule?“ frage ich.
„Ich kann das nicht und der blöde Lehrer ist nicht in der Lage, es so zu erklären, dass man es versteht.“ und zu ihren Tränen mischt sich der Zorn auf die Lehrkraft, die anscheinend ihren Beruf verfehlte. „Verstehe! Daher weht also der Wind. Welches Fach?“ „Französisch, sonst hätte ich dich schon gefragt!“ „OK, der Lehrer wieder, und von deinen Mitschülern kann dir niemand helfen?“ „Nein, die haben es entweder selbst nicht verstanden oder sind heute nicht erreichbar. Ich muss das aber morgen zur ersten Stunde schon abgeben!“ Langsam beruhigt sie sich, als ich ihr mit einem Tempotaschentuch vorsichtig die Tränen von den Wangen abwische. Ich frage sie lieber nicht, seit wann sie weiß, dass sie die Aufgaben morgen abgeben muss, denn die Antwort würde mir wahrscheinlich nicht gefallen.
„Hast du schon mal gegoogelt?“ „Ja, hab ich Paps, aber nichts brauchbares gefunden!“ Und YouTube?“ „Was soll ich denn mit YouTube?“ „Na, da findet man auch so allerhand. Komm, wir schauen mal zusammen. Sag mir mal das Thema!“ und es dauert keine zwei Minuten, bis wir eine Liste von Favoritenbeiträgen erstellt haben. „Was hältst du davon, wenn du dir das mal in Ruhe anschaust, ob etwas Brauchbares dabei ist? Ich mache uns währenddessen ein paar Pfannkuchen?“ biete ich als Kompromiss zu Nudeln an. „Au ja, da hätte ich Hunger drauf!“ In ihrem Gesicht keimt eine zarte Hoffnung und als ich ihr anbiete, dass sie sich die Videos auch in der Küche auf meinem Laptop anschauen kann, während ich die Pfannkuchen mache, huscht sogar ein liebevolles Lächeln über ihre Lippen.