Veröffentlicht: 22.07.2024. Rubrik: Menschliches
Gleise ins Ungewisse
Wir schauen uns nicht an!
Es ist schon lange her, dass wir uns aus einem wirklichen Bedürfnis heraus angesehen haben. Nur noch zufällige und nichtssagende Blicke wechseln wir. Dieses Nichtssagende ist dabei sehr vielsagend, denn es deckt schonungslos den Zustand unserer Beziehung auf. Das schmerzt.
Dein Blick wandert ins nirgendwo, während du dich graziös wie eine Katze von mir entfernst. Dieser unbeschreibliche Gang hat mich bereits von der ersten Sekunde unseres Kennenlernens hypnotisiert und erotisiert. Ich war geradezu süchtig danach, dich nackt durch unser Heim spazieren zu sehen. Auch wenn der Zauber mit den Jahren nachgelassen hat, verraten mir die Beschleunigung meines Herzschlags und die feuchter werdenden Handflächen, dass er immer noch wirkt. Wie konnte es nur so weit kommen?
Scham durchzieht augenblicklich meinen Körper und ich beginne förmlich zu glühen. Ich schließe die Augen, um sie sofort wieder zu öffnen. Ich muss dich einfach sehen! Immer und immer wieder. Ein unbegreiflicher Drang erwächst in mir, dir hinterher zu eilen und dich in meine Arme zu nehmen, dich mit Küssen zu überdecken. Du wendest dich langsam zu mir und in deinem Blick spiegelt sich eine Trauer, die mich auf der Stelle versteinern lässt.
Woran denkst du gerade? Ich würde mein Leben dafür geben, um jetzt deine Gedanken lesen zu können. Empfindest du wie ich? Schwelt in dir die gleiche Angst wie in mir, dass, wenn du diesen Zug besteigst, du die Rückfahrkarte nicht mehr buchen wirst? Das diese Trennung auf Zeit unser Ende besiegelt, unser Versagen?
Dein Blick verändert sich, du wirkst plötzlich gefasst und kalt. Du greifst in deine Handtasche und wühlst eine gefühlte Ewigkeit nach Zigaretten und deinem Feuerzeug. Die Flamme flackert hektisch hin und her, weil deine Hand zittert. Du nimmst einen tiefen Zug und streichst dir mit der linken Hand deine schwarze Haarlocke aus dem Gesicht, bevor du langsam den Qualm durch die Nase in die Freiheit entlässt. Du bist bereit!
Der Zug fährt langsam in den Bahnhof ein und schlagartig entwickelt sich eine hektische Betriebsamkeit. Ich nehme den Koffer auf und trage ihn zu dir herüber. Du stehst wartend auf der Einstiegstreppe des Waggons und wir begegnen uns auf Augenhöhe. Was erwartet mich?
Etwas außer Atem, reiche ich dir den Koffer an. Du nimmst den Koffer entschlossen entgegen und stellst ihn in den Waggon hinter dich, bevor du dich mir wieder zuwendest. Dann schließt du schnell die Augen und gibst mir einen Kuss auf die Wange, gefolgt von einem kurzen und unterkühlten „Adieu!“
Die Pfeife des Zugbegleiters ertönt und langsam schließen sich die Türen. Ich trete einen Schritt zurück und lege meine Hand auf die Scheibe der Tür. Du zögerst lange, als wenn du nach einer Entscheidung suchst, doch dann legst du deine Hand an meine und schaust mir direkt in die Augen. „Ich sehe dich!“ Verrät mir dieser Blick und er reißt erst ab, als der Zug schnaubend den Bahnhof verlässt.