Veröffentlicht: 22.06.2024. Rubrik: Menschliches
Candle Light Dinner
Sie liebt ihn, das wusste sie inzwischen, auch wenn es sehr lange gedauert hat, das aus ihrem Gefühlskosmos herauszufiltern. Dass er sie auch liebte, war für sie mittlerweile zweifellos! Sein monatelanges beständiges Werben und die Offenheit, mit der er ihr zu verstehen gab, wie es um ihn stand, ließen selbst ihren chaotischen Gedankenmustern keine andere Erkenntnis mehr zu. Ihr ganzes Leben lang als Frau wehrte sie sich verzweifelt dagegen, dass eine Möglichkeit bestand, dass jemand sie wirklich lieben könnte. Sie, die in ihren eigenen Augen nichts wert war.
Doch jetzt stand sie hier und ließ die vergangenen Monate Revue passieren. Wie sie sich zufällig kennenlernten und wie er es mit seiner Beharrlichkeit geschafft hatte, ihren gemeinsamen Weg in einen Trichter münden zu lassen, in dem es keinen Ausweg mehr für sie gab. Sie konnte nicht mehr weglaufen. Wollte nicht mehr weglaufen! Sie wollte jetzt und genau hier sein, auch wenn ihre Ängste langsam wieder anfingen, die Kontrolle zu übernehmen, um den Fluchtreflex auszulösen, dem sie so oft instinktiv gefolgt war. Heute nicht. Heute musste sie standhalten!
Die Sekunden verrannen und jede Einzelne war eine Qual, hoffentlich kommt er bald! Sie wusste, wenn er nur endlich da wäre, würden ihre Ängste und Zweifel mit jeder Minute seiner Anwesenheit abebben. Diese Erfahrung war es, dass es überhaupt dazu kommen konnte, dass sie jetzt und hier so sehnsüchtig auf ihn wartete. Sie trug ihr langes und eng geschnittenes schwarzes Abendkleid, das sie sich extra für diesen Abend gekauft hatte und dass ihre Figur betonte. Eine Figur, die sie akzeptierte, was im krassen Widerspruch zu ihrem Körpergefühl stand.
Sie ging noch einmal kurz ins Schlafzimmer und überprüfte vor dem großen Spiegel mit kritischem Blick die hochgesteckte Frisur und zupfte an den Ärmeln des Kleides, um den Stoff zu glätten. Wertvolle Sekunden sich abzulenken. Erstaunlicherweise war das, was sie im Spiegel sah, akzeptabel, ein Zustand, den sie selten empfand, sich selbst zu akzeptieren.
Endlich klingelte es und ihre Beine bewegten sich Richtung Tür, ohne dass ihr Kopf protestierte. Sie sammelte sich kurz davor und öffnete dann Zentimeter für Zentimeter die Tür, bis die Kette einrastete. Sie ärgerte sich, denn in ihrem stundenlang zurechtgelegten Plan wollte sie selbstbewusst und schwungvoll die Tür öffnen. Doch Vorstellung und Realität liefen in ihrem Leben selten Hand in Hand. Sie schloss die Tür kurz wieder, um die Kette zu entriegeln und schaffte es zumindest, die Tür in einem überschaubaren Zeitrahmen zu öffnen.
„Wow!“ entfuhr es ihm, als er sie in ihrem Kleid und der, nur mit Kerzen erleuchteten Diele erblickte. „Ein Candle Light Dinner?“ fragte er sie irritiert. „Dafür bin ich wohl underdressed, warum hast du nichts gesagt?“ und er schaute etwas verlegen auf seine gammelige Jeans. „Nein nicht wirklich, wir bestellen nur etwas, aber ich wollte dich in einer angemessenen Stimmung empfangen. Möchtest du nicht erst einmal hereinkommen?“ sagte sie etwas hektisch, denn sie wollte auf keinen Fall, das zufällig einer ihrer Nachbarn die Nase in den Flur steckte und sie in diesem Aufzug sah.
Als er sich immer noch nicht bewegte und sie wie angewurzelt betrachtete, nahm sie seine Hand und zog ihn wohl etwas zu energisch hinein, während sie die Tür schloss. Nichts ahnend, dass sie damit ihren zurechtgelegten Plan von einer auf die nächste Sekunde unwiederbringlich zerstörte, als sie in seinen Armen landete. Verstört und der Situation nicht gewachsen, wollte sie sich schnell wieder von ihm lösen, doch als sie bemerkte, dass er keine Anstalten machte, sie küssen zu wollen, sondern sie nur warm und freundschaftlich umarmte und ihr ein „Entschuldige“, leise ins Ohr säuselte, entspannte sie sich und ließ ihn gewähren. Sie glaubte ewig dort mit ihm zu stehen, bis er ihr Kinn in seine schwielige kräftige Hand nahm, ihren Kopf leicht anhob und flüsterte, „Ich weiß, dass du Angst hast, aber du brauchst keine Angst zu haben, es wird zwischen uns niemals etwas passieren, was du nicht wirklich möchtest!“
Sie spürte, wie ihre Knie weich wurden und als sie die Augen öffnete, um in seine zu schauen, brach ihr Blick und Tränen liefen über ihre Wangen. Sanft zog er sie wieder in seine Arme und legte ihren Kopf an seine Brust „Alles wird gut!“ wiederholte er mehrmals, während er ihr zärtlich über ihren Kopf streichelte und mit seinen Lippen ihr Haar liebkoste. Lange standen sie so da, sie konnten sich einfach nicht voneinander lösen. Als der Tränenstrom endlich versiegte und sich der Kopf wieder einschaltete, durchlief sie eine Panik!
Wie wird er reagieren, wenn er ihren narbenüberzogenen Körper sieht. Wird er sich ekeln und abwenden, oder wird er verstehen und akzeptieren? Wirre Gedanken und Bilder schossen ihr durch den Kopf, bis plötzlich und völlig unerwartet eine Ruhe und Klarheit in ihren Geist einzog, die sie in der Vergangenheit noch nie verspürt hatte. Jetzt! Gaben ihr Körper und Geist gleichzeitig zu verstehen. Jetzt! Sie hob ihren Kopf und küsste ihn mit solch einer Leidenschaft, die sie sich selbst nie zugetraut hätte. Als sie spürte, wie sein Körper reagierte, begann ihr Körper leicht zu zittern. Sie nahm seine Hand und führte ihn in den Raum, wo sich entscheiden sollte, welchen Weg ihr Leben zukünftig nehmen wird.
Er ließ sich bereitwillig führen, doch als sie die Tür zum Schlafzimmer schloss, hielt er sie zurück. Verunsichert dreht sie sich zu ihm, „Willst du etwa nicht?“ stammelte sie und ihr Mut fiel wie ein Kartenhaus zusammen. „Ich möchte schon, aber wir müssen nicht, und ich möchte, dass du das weißt! Es gibt keinen Grund, etwas zu überstürzen, genauso wenig, wie es keinen Grund gibt, es nicht zu tun, sofern du dir mit jeder Faser deines Seins sicher bist. Aber das bist du nicht, und das spüre ich! Ich liebe dich und ich bin nicht bereit, diese Liebe zu opfern, nur um einem spontanen Impuls zu folgen, der unsere Zukunft zerstört, bevor sie richtig beginnt!“
Aufmerksam hatte sie ihm zugehört und sie wusste, dass er mit jedem Wort recht hatte. Wie konnte ein Mensch sie nur besser kennen, wie sie sich selbst? Wieso war für ihn glasklar, was für sie nur ein undurchdringliches Chaos von Widersprüchen war! Sie schaute ihm tief in die Augen und die Güte in seinem Blick legte sich sanft auf ihre geschundene Seele. Eine Seele, die in frühster Kindheit von den Prüfungen des Lebens zerrissen wurde und die nie Gelegenheit bekam zu heilen.
Sie spürte nicht die Tränen, die über ihre Wangen liefen, denn als er sie sanft in seine Arme zog, wurde sie von einer Ruhe und Geborgenheit geflutet, die jeden Schmerz vergessen ließen. Er gab ihr viel Zeit, bevor seine Lippen, die ihren suchten, und mit seinem Kuss legte er ein Versprechen ab, das alle ihre Zweifel in reinste Liebe wandelte.