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geschrieben 2022 von Christelle (Christelle).
Veröffentlicht: 16.09.2022. Rubrik: Menschliches


Kapitel 6: Zwei alte Männer

Georg stand im großen Speisesaal des Altenheims und schaute sich zufrieden um. Seine Gemälde mit den Ruhrgebietsmotiven schmückten nicht nur diesen Raum, sondern auch die Flure der ganzen Etage. Dass er nicht früher auf die Idee gekommen war, diese dem Heim zu vermachen, fragte er sich. Besser, als sie in Frau Webers Keller verstauben zu lassen.

Jedenfalls war es ein schönes Ambiente für seine Geburtstagsfeier am Nachmittag. Er hatte sich gut vorbereitet. Das Belegexemplar des Films „Hannelore“, eine alte Filmrolle, hatte er von einem jungen pfiffigen Tontechniker und Computerexperten namens Jens Herold, Sohn der Heimleiterin, in Ausschnitten auf ein modernes digitales Medium kopieren lassen. Frau Herold selbst hatte ihm geraten, nur Ausschnitte zu zeigen, da die Originallänge von 70 Minuten seine Gäste überfordere, denn den meisten alten Leute fehle es an der nötigen Konzentration, der Handlung eines so langen Films aufmerksam zu folgen. Selbstverständlich wollte er nicht, dass die Zuschauer die für ihn relevanten Passagen verschliefen.

Jens hatte zusätzlich Billys Zeichnung aus dem Gedichtband sowie die dazugehörigen Verse gescannt und dem Dateiträger mit den Filmausschnitten hinzugefügt. Er würde ihm auch bei der Vorführung behilflich sein. Dafür war er dankbar, er war sein Leben lang weder technisch begabt noch technisch interessiert gewesen. Das Ganze war Frau Herolds Idee gewesen, als er sie nach einem Vorführgerät für die alte Filmrolle fragte.

Am Schwarzen Brett hing seine Einladung zu Kaffee, Tee, Kuchen und Sekt bzw. Saft zum Anstoßen. Dort war zu lesen, dass auch ein Film gezeigt werde, aber er hatte nichts Inhaltliches erwähnt. Er wollte Wilhelm überraschen.

Durch seine intensive Beschäftigung mit der Vergangenheit war ihm Folgendes klar geworden:
Für Wilhelm alias Billy war Hannelore vermutlich ein Kind, das er nach seinen Vorstellungen erziehen und formen wollte. Er trat ihr nie zu nahe, es lagen ihm andere Mädchen zu Füßen, denn als Hauer auf Zeche Dahlbusch verdiente er nicht schlecht in der damaligen Zeit und hatte Anspruch auf Deputatkohle als Sachleistung

Wahrscheinlich war es nur verletzte Eitelkeit, die ihn dazu bewogen hatte, Hannelore nicht aufzugeben.
Sein eigenes Leben als Halodri war wohl das Manuskript für das, was er Hannelore über ihn, Georg Kaminski, erzählte. Eine andere Erklärung, warum sie damals jede Aussprache mit ihm verweigerte, hatte er nicht.
Und Billy hatte wohl das größte Interesse, dass sie nicht mehr mit ihm redete und wird sie in dieser Haltung bestärkt haben.

Nach und nach trudelten seine Gäste ein. Das Service-Personal des Heims begrüßte sie mit einem Glas Sekt oder Saft, damit sie mit Georg anstoßen und ihm zu seinem 90. Geburtstag gratulieren konnten. Auch Wilhelm und seine Tischnachbarinnen Ida und Renate waren pünktlich da.

Als alle ihre Plätze eingenommen hatten und Georg erwartungsvoll anschauten, begrüßte er sie mit einer kleinen Ansprache:

„Liebe Gäste, ich freue mich, dass Sie heute meiner Einladung gefolgt sind und ich hoffe, wir werden zusammen einen schönen und interessanten Nachmittag erleben. Nachdem wir uns am Kuchenbuffet gestärkt haben, werde ich Ihnen einen Film zeigen.“

Nach dem Kaffeetrinken nahm er den Faden wieder auf, nicht ohne Wilhelms Reaktionen genau und unauffällig zu beobachten:

„Dieser Film wurde Mitte der 50er Jahre gedreht. Er handelt vom Schicksal einer Frau, die damals sehr jung war, die Sie aber alle kennen. Im Film wird sie von der damals gerade entdeckten Viviane Bachmeier dargestellt. Diese Frau ist leider im April diesen Jahres verstorben. Es ist Hannelore Klein.

Wilhelm zuckte zusammen

Ich bitte Sie, sich im Gedenken an sie zu erheben und eine Schweigeminute einzulegen.“

Wilhelm wirkte plötzlich nervös, seine Hände zitterten, als er aufstand

Als sie sich wieder setzten, startete Jens den Film. Man sah kurze Segmente, die Jens geschickt aneinander gereiht hatte. Angefangen mit zwei jungen Männern, beide aus der amerikanischen Kriegsgefangenschaft heimgekehrt, bis zur Rivalität der beiden um die junge Hannelore, das Ganze auf eine knappe halbe Stunde reduziert
.
Wilhelm begann zu schwitzen, versuchte mühsam, sich nichts anmerken zu lassen, als Ida und Renate sich laut über den üblen Kerl empörten

Die beiden haben noch nicht gerafft, dass das Wilhelm war, dachte Georg in seiner Beobachter-Position.
Dann ließ Jens die gescannte Zeichnung aus dem Gedichtband auf die Leinwand gleiten. „Das ist der Billy aus dem Film“, erklärte Georg. Jetzt erkannten fast alle ihren Mitbewohner Wilhelm Klein.
Plötzlich redeten alle durcheinander, starrten Wilhelm empört an und Ida sagte voller Überzeugung: „Sie sind ein Schwein.“

Am liebsten wäre Wilhelm im Erdboden versunken. Sein Gesicht lief puterrot an, doch dann hatte er sich gefasst und ging er zum Angriff über. „Das Schwein ist der da,“ rief er zornig auf Georg zeigend, das ist Verleumdung. Ich werde dich verklagen, Blödmann.“

Frau Herold mischte sich ein:“Beruhigen Sie sich, Herr Klein. Wir werden das alles später klären. Wenn dieser Film reine Fantasie ist, wird sich Herr Kaminski entschuldigen.“ Dass es um einen Rachefeldzug gegen Herrn Klein ging, hatte Herr Kaminski ihr nicht erzählt. Unmöglich konnte sie die beiden jetzt noch in einem gemeinsamen Zimmer belassen. Aber ihr Sohn, dieses Bürschchen, musste eingeweiht gewesen sein.
Der hatte inzwischen die Zeichnung gegen die ersten Zeilen des Gedichts auf der Leinwand ausgetauscht und Wilhelm las:
„Wir nannten ihn Billy Boy
der liebte die Damen,
Er war nie einer treu,
sie gingen und kamen…..“

Das gab ihm den Rest. Er rannte auf Georg zu und schrie wutentbrannt: „Du hast meinen guten Ruf zerstört!“

„Und du mein Leben!“ entgegnete Georg und schaute ihn eiskalt an.

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von Onivido kurt am 16.09.2022:
Kommentar gern gelesen.
Christelle, ich in meiner Unschuld habe gedacht, dass die beiden sich auf wunderbare Weise doch noch versoehnen wuerden. Jetzt sterben beide mit Groll im Herzen und niemand hat etwas davon. Jetzt lese ich meinen Kommentar und finde es kaum zu glauben, dass ich ihn geschrieben habe. Die meisten meiner Geschichten sind voller Gewalttaten. Du solltest jetzt ja schon schlafen, aber ich wuensche dir dennoch eine gute Nacht///Onivido




geschrieben von ehemaliges Mitglied am 16.09.2022:
Kommentar gern gelesen.
Sehr schön, Christelle. Eine Geschichte, wie aus dem Leben (50er-Jahre - Kohlenpott - Altersheim) - incl. dramatischem Ende. Wilhelm (Billy) ist besonders gut getroffen, der könnte seinerzeit in meiner früheren Nachbarschaft der Prototyp für viele andere sein. LG, Horst




geschrieben von Gari Helwer am 16.09.2022:
Kommentar gern gelesen.
Gut gelungener Schluss, Christelle! Lüge und Verleumdung kann so viel zerstören. Wie wird Frau Herold nun mit der Situation umgehen? Wilhelm ist vor Allen bloß gestellt - und bei Ida und Renate ist er auch unten durch! Habe alle Teile sehr gerne gelesen! LG




geschrieben von Christelle am 16.09.2022:

@ Onivido: Ich bin überrascht über dein mildes Urteil, Kurt. Und du wunderst dich ja auch darüber. Mir fällt kein glaubwürdiges Szenario für eine Versöhnung ein. Ich mag es, wenn Geschichten positiv und friedlich enden, aber in diesem Fall ist mir dieser Gedanke nie gekommen.




geschrieben von Christelle am 16.09.2022:

@Horst Radmacher: Ich freue mich sehr, dass dir der Schluss auch gefällt, Horst. Sehr schön, dass diese Geschichte für dich glaubwürdig und eine aus dem realen Leben ist. Ich habe mich echt schwergetan mit dem letzten Kapitel.




geschrieben von Christelle am 16.09.2022:

@Gari Helwer: Lieben Dank, Gari. Hast recht, Lüge und Verleumdung bringen nichts. Das sollte auch meine Botschaft sein. Damit es glaubwürdig klingt, durfte Frau Herold keine gemeinsame Sache mit Georg machen. Sie musste ineutral bleiben. Ich habe eine Zeit lang mit anderen Personen in Altenheimen Geschichten als Rollenspiel gelesen . Es ist tatsächlich so, dass einige der Bewohner einschlafen oder, wenn sie laufen können, den Saal verlassen, wenn so etwas zu lange dauert.

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