Veröffentlicht: 11.09.2022. Rubrik: Menschliches
Kapitel 5: Zwei alte Männer
Wilhelm bestärkte sie darin, nicht auszudenken, wenn sein böses Spiel aufgeflogen wäre.
So aber willigte sie ein, ihn zu heiraten. Sie war gerade 18 geworden, als die Hochzeitsglocken läuteten. Schnösel beendete zeitnah sein Studium und zog nach München. Aus den Augen, aber nicht aus Hannelores Sinn, war sein Eindruck! Vermutlich war ihr Kummer über Schnösels vermeintliche Untreue der Grund für ihre gesundheitlichen Beschwerden. Immer wieder zermarterte er sein Hirn nach Schnösels Namen. Er meinte sich zu erinnern, dass er ähnlich wie Schnösel klang, auf alle Fälle begann er mit Sch…
Und dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Schorsch. War das nicht eine Kurzform von Georg? Ein kalter Schauer lief ihm den Rücken hinunter, als er an seinen Zimmergenossen Georg dachte. Dieser hatte mal erwähnt, dass er nie geheiratet habe, weil er seiner geliebten Lore nachtrauerte. War Georgs Lore seine Hannelore ? Der Schorsch von damals hatte dichtes schwarzes Haar und der Georg von heute immer noch dichtes, aber schlohweißes Haar. Das passte alles zusammen! Verdammt!
Aber niemals würde er Georg darauf ansprechen. Es war besser für zwei alte Greise, wenn sie wegen einer bereits verstorbenen Frau nicht in Streit gerieten, abgesehen davon, dass er, Wilhelm, damals eine so unrühmliche Rolle gespielt hatte.
So gingen sie weiterhin jeden Tag gemeinsam in den Speisesaal, um die Mahlzeiten einzunehmen. Allerdings hatte Georg die Veränderung in Wilhelms Verhalten bemerkt. Wilhelm war plötzlich nicht mehr so aufbrausend und aggressiv. Auch mit spöttischen Bemerkungen hielt er sich zurück.
Georg wunderte sich, war im Grunde genommen aber froh, dass sich ihr Verhältnis zueinander etwas entspannt hatte. Zur Zeit hatte er etwas anderes, das ihn beschäftigte: sein bevorstehender 90. Geburtstag.
Es war Anfang Juli, am 25. dieses Monats würde er 90 werden. So überlegte er, wie er seinen Geburtstag gestalten könnte. Sollte er seine Tischnachbarn und vielleicht noch andere Heimbewohner sowie das Personal zu einer kleinen Feier einladen?
Ja, entschied er, wahrscheinlich war es der letzte runde Geburtstag, den er erleben würde. Und am Hungertuch nagte er nicht gerade. Sein Roman „Hannelore“, in dem er die komplizierte Beziehung zu seiner Jugendfreundin problematisierte, war ein voller Erfolg und wurde sogar verfilmt. Auch sein Gedichtband mit eigenen Zeichnungen hatte sich gut verkauft. Und ein Bild, dass er im Stil alter Meister vom Essener Baldeney-See gemalt hatte, konnte er schon Ende der 50er Jahre für DM 2.000 verkaufen. Das hatte er seinem Lehrer und Gönner Heinrich Schardt zu verdanken, der ihm diese Art der Malerei näherbrachte.
Später hatte er noch einige Bilder verkauft, wenn auch nicht zu Höchstpreisen.
Er holte das Verzeichnis seiner Kunstwerke hervor. Meist waren es Landschaftsmotive oder andere Sehenswürdigkeiten aus dem Ruhrgebiet. Er hatte alle Gemälde katalogisiert mit einem Foto und Informationen, wann er es gemalt hatte, wie er es genannt, ob er es verschenkt oder verkauft hatte, wenn ja , wann und zu welchem Preis. Viele seiner Gemälde waren noch in seinem Besitz. Vielleicht könnte er einige dem Heim vermachen. Dazu müsste er mit der Heimleiterin, Frau Herold, reden und seine ehemalige Haushälterin in Düsseldorf, wo er zuletzt lebte, kontaktieren. Frau Weber hatte seine Malereien, die er ja nicht mit ins Heim nehmen konnte, im Keller ihres Hauses für ihn verstaut.
Zunächst zeigte er Frau Herold seinen Bilderkatalog. Frau Herold war begeistert, dass diese tollen Gemälde demnächst als Schenkung die Wände ihres Alten – und Pflegeheims schmücken sollten.
Also bat er seine ehemalige Haushälterin, ihm alles, was ihm gehörte und in ihrem Keller lagerte, zu bringen, bis auf das, was sie vielleicht selber gern behalten würde.
Frau Weber kam und brachte außer den Gemälden noch etliche seiner Büchlein mit den Gedichten und Zeichnungen mit. Außer einem Bild vom alten Gelsenkirchener Bahnhof hatte sie zwei dieser Gedichtbände für sich selbst abgezweigt. „Ihre Gedichte sind einfach klasse, Herr Kaminski“, sagte sie voller Überschwang, „es sind so einfühlsame Liebesgedichte. Die Frau, der sie gewidmet sind, muss sehr glücklich gewesen sein. Und Sie müssen sie sehr geliebt haben.“ „Ja, das habe ich“, antwortete er leise. „Ihre Zeichnungen sind genauso schön, so romantisch und so detailliert“, fuhr Frau Weber fort, „die letzten Seiten sind aber völlig anders. Sie müssen sehr wütend auf diesen Billy gewesen sein…“ Wie von der Tarantel gestochen fuhr er hoch: „Billy?“ Ja, so hieß damals sein Rivale. Und plötzlich wurden seine Knie weich und er zitterte vor Aufregung , als ihm klar wurde, dass Bill im Englischen eine Kurzform von William ist.
Als er im April ins Heim zog und Wilhelm kennenlernte, hatte er fast sofort das Gefühl, diesem Mann schon einmal begegnet zu sein. Seine ganze selbstsüchtige Art erinnerte ihn an einen ehemaligen Freund, an den er lieber nicht erinnert werden wollte.
Da dieser Mann damals nie Wilhelm genannt wurde, hatte er geglaubt, die Ähnlichkeiten mit seinem Rivalen seien rein zufällig. Er schlug die letzten Seiten des Gedichtbandes auf. Seinen Nebenbuhler hatte er ganz verzerrt gezeichnet, er sollte wie ein Bösewicht wirken und sah dadurch wie ein älterer Mann aus. Und er sah aus wie sein Zimmergenosse Wilhelm, stellte er fest. Nun wusste er, dass es sich um ein und dieselbe Person handelte. Aufgeregt las er das Gedicht, das er damals verfasst hatte. Er hatte Billy und seine Durchtriebenheit
sehr gut durchschaut . Er würde sich heute Nacht seinen Roman „Hannelore“ unter diesen Gesichtspunkten durchlesen. Da würde er mehr über seine eigene damalige Gefühlslage erfahren.
Beim nächsten Mal lädt Georg zu seinem 90. Geburtstag ein