Veröffentlicht: 03.09.2022. Rubrik: Menschliches
Kapitel 4: Zwei alte Männer
„Wie romantisch“, sagte auch Wilhelm, doch bei ihm klang es spöttisch.
Wilhelm dachte an Hannelore. Er hatte sie kennengelernt, als er Anfang 1946 aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrt war. Ihr Vater besaß ein Lebensmittelgeschäft in der Nähe der Wohnung seiner Eltern mitten im Ruhrgebiet.
Sie war sehr lieb und bescheiden und mit ihren damals erst 16 Jahren sehr jung und unerfahren. Er machte ihr Komplimente und freundete sich mit ihr an. Sie war sehr zurückhaltend, eigentlich noch ein Kind. Aufgrund ihrer Unerfahrenheit konnte er sie ein bisschen nach seinen Wünschen erziehen. Dass ihrem Vater ein Lebensmittelgeschäft gehörte, war ein weiterer Pluspunkt dieser Freundschaft, weil Papa in der schlechten Zeit öfter eine Extraration an Essbarem spendierte, die er in seinem Laden für’s Töchterchen abzweigen konnte. Das kam natürlich auch ihm zugute.
Trotz Mangelwirtschaft war es eine schöne Zeit, bis dieser Schnösel mit dem dichten schwarzen Haar auftauchte. Der war ungefähr so alt wie er selbst, nämlich Anfang 20. Auch er war aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt und mietete sich in einem möblierten Zimmer ein, direkt über dem Lebensmittelgeschäft von Hannelores Vater.
Anfangs hatte er sich mit dem Schnösel - wie hieß er eigentlich? - gut verstanden. Ihre gemeinsamen Themen waren Kriegserlebnisse und Gefangenschaft. Beide waren bei den Amerikanern in Gefangenschaft und hatten es dort noch relativ gut gehabt, jedenfalls waren sie froh, nicht bei den Russen gewesen zu sein. So etwas verbindet.
Der Schnösel begann ein Kunststudium an der Folgwangschule in Essen. Brotlose Kunst, dachte Wilhelm damals. Er selbst konnte als Hauer vor Kohle auf der Zeche Dahlbusch in Gelsenkirchen arbeiten. Dort verdiente er gutes Geld, während Schnösel sich mit Gelegenheitsjobs durchschlug, um sein Studium finanzieren zu können. Aber Schnösel war wie besessen von seiner Kunst. Er redete oft schwärmerisch über Heinrich Schardt, der die Schule seit 1948 leitete. Und der laut Schnösel ein begabter Graphiker und Maler gewesen sein soll.
Wieso konnte er sich an den Namen von Schnösels Idol erinnern, aber nicht an Schnösels Namen?
Wie hieß er denn bloß ?
Aber er erinnerte sich, dass dieser Gedichte schrieb.
Er schrieb viele Gedichte, die er zusammen mit einer passenden Zeichnung Hannelore widmete. Diese war davon sehr beeindruckt. Sie ging oft die Treppe hoch in Schnösels möbliertes Zimmer, um sich seine literarischen Ergüsse vorlesen zu lassen.
Er hatte es zu spät bemerkt: Eines Tages hatten sich die beiden ineinander verliebt.
Hannelore beichtete es ihm und wollte mit ihm Schluss machen. Er war fassungslos. Es war außerhalb seiner Vorstellungskraft, dass ein mittelloser Reimeschmied seine Hannelore erobert hatte. Er wollte sie unbedingt zurück haben und dafür war ihm jedes, auch unfaires Mittel recht.
Er war so in Gedanken vertieft, dass er nicht hörte, wie Ida und Renate den Mittagstisch verließen. Georg tippte ihn an und meinte: „Zeit zu gehen!“
„Entschuldigung,“ antwortete Wilhelm, „ich war in Gedanken in einer anderen Welt und anderen Zeit.“ Georg war überrascht. Niemals hätte er geglaubt, dass „Entschuldigung“ im Wortschatz des anderen präsent war.
Wilhelms Gedanken weilten immer noch in der Vergangenheit. Er hatte Hannelore damals unbedingt zurückgewinnen wollen. Deshalb machte er ihr weis, dass Schnösel seine Gedichte und Zeichnungen auch an andere Mädchen verteilte. Er erzählte ihr, dass die Mädchen seine Gedichte liebten. Sie liebten auch Schnösel, der das erstens genoss und zweitens in unverschämter Weise ausnutzte. Nicht nur, dass er immer genug Gespielinnen fürs Bett hatte, er lebte auch auf Kosten dieser Mädchen, da er selber ja nichts verdiente. Von wegen, er hatte Nebenjobs, um sein Studium zu finanzieren. Er lag auf der faulen Haut und schrieb Gedichte.
Hannelore konnte und wollte es nicht glauben. Er sei ihr noch nie zu nahe getreten, sagte sie. „Weil er genug andere hat“, hatte er damals geantwortet.
Hannelore fühlte sich betrogen und war sehr enttäuscht. Sie brach den Kontakt zu Schnösel sofort ab. Dieser versuchte noch, sie zu treffen, um herauszufinden, was passiert war, warum sie ihn nicht mehr sehen wollte. Aber Hannelore blieb standhaft und lehnte alle Versuche, sich auszusprechen ab. Wilhelm bestärkte sie darin, nicht auszudenken, wenn sein böses Spiel aufgeflogen wäre.
Fortsetzung folgt