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geschrieben 2022 von Christelle (Christelle).
Veröffentlicht: 30.08.2022. Rubrik: Menschliches


Kapitel 2: Zwei alte Männer

Er wusste nicht, wie er die Waschmaschine bedienen sollte.

Für so etwas fühlte er sich nicht zuständig. Er war der Ernährer der Familie gewesen, er brachte das Geld nach Hause, das er mit harter Arbeit verdient hatte, und Hannelore war schon immer für die Hausarbeit verantwortlich. Dass er seit 30 Jahren nicht mehr hart arbeitete, blendete er völlig aus.

Nun war Hannelore im Heim und ohne sie war das Leben für den mittlerweile 90jährigen Wilhelm beschwerlich geworden. Seine Kinder wohnten weit entfernt, so entschloss er sich, ebenfalls ins Heim zu gehen, auch wenn es verdammt teuer für zwei Personen war. Glücklicherweise konnten sie zusammen ein Doppelzimmer beziehen, was das Ganze ein wenig preiswerter pro Person machte.

Die Heimkosten musste er vom Ersparten zahlen. Er hatte die Kinder gebeten, sich daran zu beteiligen. Die meinten aber, er müsse zuerst seine Ersparnisse offenlegen und diese bis auf das Schonvermögen aufbrauchen. Das fand er unverschämt, was gingen die Gören seine Ersparnisse an? Er war empört!

Nach einigen Wochen im Heim bemerkte er, dass seine geliebte Hannelore kaum noch ansprechbar war. Eines Tages erkannte sie ihn nicht mehr. Sie schrie laut vor Angst, wenn sie ihn sah.

So brachte man sie tagsüber zu den Demenzkranken, die intensiver betreut werden konnten, denn dort gab es mehr Personal. Die Pflegerinnen dort kümmerten sich rührend um sie und versuchten, ihr die Angst zu nehmen. Das Heim beantragte Pflegestufe 2 für Hannelore, der medizinische Dienst der Krankenkasse genehmigte sofort, ohne sich bei 2 aufzuhalten, die Stufe
3. Dann hatte Hannelore offenbar ihre Angst vor Wilhelm „vergessen“, doch immer öfter wurde sie ins Krankenhaus eingeliefert. Ihr Herz war so schwach, dass sich Wasser in ihrer Lunge sammelte, das jedes Mal abgepumpt werden musste. Sie verstarb recht bald und Wilhelm verstand die Welt nicht mehr.

Sie war doch erst 84 Jahre alt.

Die Heimleitung erlaubte ihm, die ersten Tage nach dem Tod seiner Frau in seinem Zimmer zu verbringen, hierher wurden ihm seine Mahlzeiten gebracht. Dann befand man, er solle wieder am normalen Heimalltag teilnehmen, zumal ein neuer Bewohner in sein Doppelzimmer einziehen würde.
Dann saß er zum ersten Mal nach Hannelores Tod zum Abendessen im Speisesaal. Am gewohnten Vierertisch! Die beiden Tischnachbarinnen, zwei muntere redselige alte Damen namens Ida und Renate, waren ebenfalls schon da. Nur der Platz ihm gegenüber, wo sonst seine Frau saß, blieb leer. Das Gerede der beiden Damen nervte ihn heute. Sie hatten ihm ihr Beileid ausgesprochen und beteuert, dass Hannelore eine ganz liebenswerte Frau war, die zum Schluss leider sehr abgebaut hatte und sogar gefüttert werden musste. „Genauso wie Frau Weniger“, sagte Ida, dann wandten sie sich einem naheliegenderen Thema zu, dem Abendessen. Dass darüber soviel zu sagen war, konnte er nicht begreifen. Der Käse sei lecker, aber zu fett, die Wurst zu salzig, der Salat schon welk….. Früher gab es zu Hause Salat aus dem eigenen Garten, der war so etwas von frisch…. Die Münder im Redefluss der Damen blieben plötzlich vor Erstaunen offen stehen, als Schwester Hildegard mit einem Herrn an ihren Tisch trat und ihn aufforderte, sich auf Hannelores Platz zu setzen. „Das ist Herr Kaminski“, stellte sie den Herrn vor, „er ist Ihr neuer Tischnachbar. Und an Wilhelm gewandt, fügte sie hinzu, „Herr Kaminski teilt ab jetzt das Zimmer mit Ihnen, Herr Klein.“

Wilhelm wäre fast vom Stuhl gefallen.“Mein Zimmer“, sagte er zornig. „Kann man nicht mal in Ruhe trauern? Meine Frau ist gerade mal ein paar Tage tot und schon liegt ein fremder Mann in ihrem Bett.“ „Aber Ihre Frau liegt ja nicht mehr drin,“ versuchte Renate ihn zu beruhigen, erreichte aber eher das Gegenteil.

Schwester Hildegard machte ihm klar, dass er lediglich ein halbes Doppelzimmer bewohnte, sobald ein Einzelzimmer frei würde, könne er umziehen. Beim Einzelzimmer sei allerdings der zu zahlende Eigenanteil höher.

Wilhelm schwieg. Ihm war der Appetit vergangen. Er schob seinen Nachtisch, eine Quarkspeise mit Dosenpfirsichen, weit von sich und musterte Herrn Kaminski eingehend. Groß und schlank war dieser, saß etwas gebückt auf seinem Stuhl, bedächtig ein Käsebrot kauend. Das dichte Haar war schlohweiß und teilte sich fast in der Mitte seines Schädels durch einen exakt gezogenen Scheitel. Die grauen Augen wurden durch das goldene Gestell einer Brille umrandet.

„Typ Ordnungsamt“, dachte Wilhelm grimmig, „das kann ja heiter werden.“

Fortsetzung folgt

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von ehemaliges Mitglied am 31.08.2022:
Kommentar gern gelesen.
Gelungen, der Einstieg in ein neues Genre, 'Geriatric Fiction'. Gut zu lesen für Jung und Alt: Die Jüngeren fragen sich, "was kommt da auf uns zu?" Für ältere Leser stellt sich auf der Zielgeraden die Frage, "wieviel Hannelore oder Wilhelm stecken in einem selbst?" Mich würde interessieren, ob Wilhelm noch einmal auf Freiersfüßen wandeln wird, und generell: die frühen Jahre, wie alles begann. Ich werde die Geschichte wohlwollend verfolgen!




geschrieben von Christelle am 31.08.2022:

Vielen Dank, Horst. Da ich die ganze Geschichte so gut wie fertig habe, kann ich dir zumindest soviel verraten, dass Freiersfüße keine Rolle spielen. Ich hätte diesen Beitrag auch nicht in Kapitel aufgeteilt, wenn er nicht so lang wäre. Ich finde den von dir geprägten Begriff ‚Geriatric Fiction‘ absolut passend und hoffe, dass du weiterhin Lust hast, das Leben der beiden alten Männer zu begleiten.




geschrieben von Gari Helwer am 31.08.2022:
Kommentar gern gelesen.
Gut geschrieben, Christelle, sehr realitätsnah! Vor Corona habe ich mich ein bisschen ehrenamtlich im Altersheim engagiert - die Gespräche über das Essen sind genau getroffen. Leider werden hier, aufgrund des Personalmangels, die Demenzkranken nicht intensiver betreut... Warte schon auf die Fortsetzung! LG




geschrieben von Christelle am 01.09.2022:

Danke, Gari. Das freut mich. Kapitel 3 folgt bald.

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