Veröffentlicht: 01.09.2022. Rubrik: Menschliches
Kapitel 3: Zwei alte Männer
„Typ Ordnungsamt“, dachte Wilhelm grimmig, „das kann ja heiter werden.“
Nach dem Abendessen gingen sie gemeinsam zurück ins Zimmer. „Es tut mir leid, das mit Ihrer Frau“, sagte Herr Kaminski, der langsam hinter Wilhelm herschlurfte. Wilhelm antwortete nicht.
Auf Hannelores Bett hatte Herr Kaminski bereits den Inhalt seiner Koffer ausgebreitet und begann langsam, seine Kleidung in den dafür vorgesehenen Schrank zu räumen. „Ordnung muss sein“, sagte er etwas verlegen in Wilhelms Richtung.
„Ich sag’s ja: Typ Ordnungsamt“, brummelte dieser vor sich hin.
Den Rest des Abends verbrachten sie schweigend. Wilhelm beobachtete kritisch den anderen, wie er langsam und sorgfältig seine Sachen in den Schrank räumte. Herr Kaminski schien es aufgegeben zu haben, mit Wilhelm ins Gespräch zu kommen.
Doch als er endlich seine leeren Koffer hinter einer dafür bestimmten Holzklappe verstaut hatte, versuchte er es doch nochmal: „Übrigens, ich heiße Georg. Wenn wir schon ein gemeinsames Zimmer bewohnen, sollten wir uns vielleicht duzen.“
„Meinetwegen“, knurrte Wilhelm nicht gerade freundlich, „eigentlich hätte ich das vorschlagen müssen, denn ich bin älter.“
„Ich werde im Juli 90“, sagte Georg. „Und ich bin im Februar 90 geworden“;, antwortete Wilhelm, überrascht, dass der Altersunterschied nicht größer war. Er hätte den Kerl fast 10 Jahre jünger eingeschätzt.
Georg sagte nichts, seine grauen Augen schauten Wilhelm unentwegt an. „Irgendwie erinnerst du mich an einen Jugendfreund“, sagte er nachdenklich, „der konnte genauso knurrig sein wie du.“ „Ich bin nicht knurrig, ich trauere um meine Frau“, sagte Wilhelm beleidigt, „es ärgert mich halt, dass so schnell der freie Platz vergeben wurde.“
„Zeit ist halt Geld“, entgegnete Georg beinahe philosophisch.
„Zeit ist halt Geld“, äffte Wilhelm ihn nach. Dann zog er seine Bettdecke hoch und schlief schnarchend ein.
Georg betrachtete ihn. Seine Gehirnzellen arbeiteten auf Hochtouren. War er diesem Menschen schon einmal begegnet? Wilhelms ganze Art erinnerte ihn an jemanden, den er mal seinen Freund nannte. Doch dann war etwas geschehen, das die Freundschaft zerbrechen ließ. Doch dieser ehemalige Freund hieß nicht Wilhelm. Und doch war die Ähnlichkeit im Verhalten und auch in der Gestik frappierend.
Endlich schlief auch Georg vom Grübeln völlig übermüdet ein.
Wilhelm betrachtete Georg weiterhin als Eindringling in seine Privatsphäre und war entsprechend unfreundlich. Am liebsten wäre ihm, wenn er sein Doppelzimmer allein bewohnen könnte, natürlich ohne Aufpreis! Dennoch machten sie sich jeden Tag gemeinsam auf den Weg zum Speisesaal, um ihre Mahlzeiten einzunehmen.
Im Gegensatz zu Wilhelm fanden Ida und Renate den neuen Mitbewohner sehr charmant. Sie plauderten gern mit Georg. Beide bewunderten seinen schlohweißen Haarschopf und seine klugen grauen Augen. Das goldene Brillengestell ließe ihn absolut intelligent aussehen, meinten sie. Das ärgerte Wilhelm erst recht.
„Warum sind Sie ins Heim gegangen?“ fragte Ida, „Sie würden doch noch gut allein zurechtkommen.“ „Eben nicht“, antwortete Georg, „ich bin schließlich auch nicht gesund. Wer ist das schon mit 90 Jahren?“
Ida und Renate waren ebenfalls überrascht, dass Georg fast 90 war. Auch sie dachten, er sei jünger. Georg erzählte, dass er keine Angehörigen habe, auch keine Kinder, die sich um ihn kümmern könnten, denn er hatte nie geheiratet.
„Kein Wunder“, knurrte Wilhelm, „dass man dich jünger schätzt. Du hattest ja nie Stress mit Frau und Kindern.“ „Es hat nicht sollen sein“, antwortete Georg mit melancholischer Stimme, „mein Mädchen, meine liebe kleine Lore, hat sich letztendlich für einen anderen entschieden. Ich habe sie nie vergessen können.“
„Wie romantisch“ riefen Ida und Renate entzückt.
„Wie romantisch“, sagte auch Wilhelm, doch bei ihm klang es spöttisch.
Fortsetzung folgt