Veröffentlicht: 01.06.2022. Rubrik: Fantastisches
Kapitel 11: Fortsetzungsgeschichte, Ende offen
Trennungsschmerz und Trennungsängste
Der Züchter, mit dem Wilhelm am Vortag so lange telefoniert hatte, kam am nächsten Morgen in aller Herrgottsfrühe vorbei, um unsere drei Brüder abzuholen. Ehe die Junghähne sich versahen, wurden sie gepackt und in eine Transportbox gesteckt.
Dann suchte der Züchter sich noch ein paar Hennen aus, darunter unsere Schwestern Bernadette, Dorothea, Emilia, Friederike und Gerlinde. Diese gehörten entweder einer seltenen Rasse an oder der Mann fand sie einfach hübsch.
Auch Charlotte passte in diese Kategorie, doch Wilhelm wollte sie nicht verkaufen. Er meinte, sie solle ihre Küken auf seinem Hof ausbrüten.
Henriette und mich wollte der Züchter nicht haben. Wir seien Allerweltshühner, davon habe er genug. Als Isolde angewatschelt kam und den Mann erwartungsvoll anstarrte, fragte er, was das für eine einfältige Henne sei. Isolde begann zu weinen, hatte sie doch geglaubt, sie gehöre zu den besonders Hübschen. Und zur Bestätigung wollte sie von ihm gekauft, aber nicht beleidigt werden.
„Wieso nennt er mich einfältige Henne?“ schluchzte sie empört, „das bin ich doch gar nicht!“
„Nein, das bist du nicht,“ tröstete ich sie, „du bist nur unerfahren. Bleibe lieber bei Henriette und mir, wir brauchen dich.“ Und schon war für die kleine Isolde die Welt wieder in Ordnung.
Derweil hockte Charlotte traurig und schweigsam in ihrem Nest. Die Trennung von Charles tat ihr weh; schließlich war er der Vater ihrer künftigen Kinder. Dennoch war sie froh, dass wenigstens ich noch geblieben war. - „Alexandra, du bist meine beste Freundin, ich will dich nicht auch noch verlieren,“ sagte sie eines Tages.
Ich fand es gut, dass wir immerhin noch zu viert waren: Charlotte, Henriette, Isolde und ich. Ich wusste es besonders zu schätzen, dass Isolde bei uns war, denn mit ihrer Naivität und Unbedarftheit brachte sie uns so manches Mal zum Schmunzeln, etwas, das wir bei all unserem Trennungsschmerz gut gebrauchen konnten.
Als eines Morgens eine junge Frau auftauchte und eifrig mit Wilhelm zu diskutieren begann, ahnten wir nichts Gutes. Wir wussten ja, dass Wilhelm auch uns verkauft hätte, wenn der Züchter uns hätte haben wollen. Wir fühlten uns deshalb verraten und waren ihm gegenüber sehr misstrauisch geworden
Doch glücklicherweise ging die junge Frau wieder - ohne irgendwelche erkennbaren Kaufabsichten. Wir atmeten erleichtert auf. Aber am nächsten Tag war sie wieder da, diesmal hatte sie einige Kinder unterschiedlichen Alters mitgebracht. Es stellte sich heraus, dass sie Lehrerin war. Sie beabsichtigte, mit den Kindern ein Projekt „Hühner live“ ** durchzuführen.
** frei nach „Hühner, Aktionshandbuch“, Hrsg. Bayerische Akademie für Naturschutz und Landschaftspflege (ANL), Seethalerstraße 6, 83410 Laufen, und Akademie für Lehrerfortbildung und Personalführung (ALP), Kardinal-von-Waldburgstr. 6-7, 89407 Dillingen a.d. Donau
Darauf hatte sie die Kinder im Unterricht theoretisch vorbereitet. Ehrfurcht vor dem Leben sollten die Schülerinnen und Schüler entwickeln, kein Lebewesen solle leiden müssen, aber die Kinder hatten auch die wirtschaftliche Bedeutung von Hühnern kennengelernt.
Doch nun sollte es um das Ausbrüten von Eiern gehen. Dafür hatte sie von älteren Schülern bereits einen Hühnerstall bauen lassen. Sie hatte auch einen Plan entwickelt, wer an schulfreien Tagen für die Versorgung der Hühner verantwortlich sein sollte. Und sie hatte auch schon Überlegungen angestellt, was nach dem Experiment mit den Tieren geschehen solle.
Weil bei brütenden Hennen nicht viel für die Kinder zu sehen sei (die Küken würden ja fast ganz von der Glucke verdeckt), hatte sie einen Brutapparat angeschafft, mit dem sie eine „Kükennacht“ in der Schule plane. Während ihre Schülerinnen und Schüler auf Entdeckungstour im Hof waren, erklärte sie Wilhelm, wie sie sich den Ablauf dieser Aktion vorstelle:
Sie werde etwa 30 Bruteier im Abstand von einer Stunde in den Brutapparat legen, und zwar so, dass die Küken nach 21 Tagen an einem Freitag schlüpften. Die Schüler sollen aktiv eingebunden werden und die Eier regelmäßig wenden oder Wasser nachfüllen, um die Luftfeuchtigkeit zu regulieren.
Nach 4–5 Tagen könne man die Eier mit dem Overheadprojektor durchleuchten. Dabei könne man Blutgefäße und die Augen, mit einer starken Lampe sogar das schlagende Herz erkennen. Nach zwei Wochen sei das Küken bereits so groß und das Gewebe so dicht, dass man beim Durchleuchten nichts mehr erkennen könne. Nur die Luftkammer am stumpfen Pol des Eies setze sich als heller Bereich ab. Unbefruchtete Eier könnten jetzt aussortiert werden. Die Eier würden täglich gewogen und in eine Tabelle eingetragen. Die Eier würden leichter, da sie etwas Wasser verlören
Kurz vor dem Schlüpfen sollten die Abstände zwischen den Kontrollbesuchen verringert werden. Eine kleine Schale mit Wasser sollte eingestellt werden, damit die geschlüpften Küken trinken können. Die Wanne mit Einstreu und Wärmelampe muss vorbereitet werden.
Die Kinder dürfen am Tag des Schlüpfens, einem Freitag, in der Schule übernachten und sich um die Küken kümmern, das heißt, sie nehmen die Küken aus dem Brutapparat und setzen sie in die Wanne unter die Wärmelampe.
„Und da ich die Eier im Abstand von jeweils einer Stunde in den Brutapparat gelegt habe, werden auch nicht alle Küken gleichzeitig schlüpfen“ , beendete die junge Frau ihre euphorischen Ausführungen. Sie hatte offenbar an alles gedacht. Ich war beeindruckt und neugierig zugleich. Diesen Brutapparat hätte ich mir zu gern selbst mal angesehen. Ich konnte es mir einfach nicht vorstellen, dass man unsere Eier durchleuchten konnte.
Nicht nur ich, auch Wilhelm schien beeindruckt von ihrem Schulprojekt zu sein, mehr aber noch von der jungen Lehrerin namens Renate selbst und der Begeisterung für ihr Vorhaben. Er bot ihr an, dass Charlotte und die dicke Berta, der er bereits wieder Bruteier untergeschoben hatte, ihre Bruttätigkeit im schuleigenen Hühnerstall fortsetzen könnten. Als ich das hörte, wurde es mir fast schwarz vor den Augen. Schon wieder eine Trennung, dachte ich traurig.
Ein kleines pausbackiges Mädchen, eines der Kinder, das Renate mitgebracht hatte, lief plötzlich auf Isolde zu, die die ganze Zeit dagestanden und ziemlich neugierig die junge Lehrerin angestarrt hatte. „Oh, ist die niedlich,“ rief das Kind, „darf ich die mitnehmen? Bitte, bitte.“ Ich musste schmunzeln, denn das pausbäckige Mädchen schaute genauso naiv und unbedarft in die Welt wie Isolde. Da hatten sich wohl zwei gefunden, die wie Topf auf Deckel zusammenpassten.
Wilhelm sah das offenbar genauso, denn er antwortete: „Ja, ich schenke sie dir. Aber du musst immer gut für sie sorgen, denn sie ist meine Lieblingshenne.“
Unsere Isolde strahlte vor Glück. Nicht nur, dass sie selbst als ‚niedlich’ bezeichnet wurde, sondern dass Wilhelm sie seine ‚Lieblingshenne‘ nannte, machte sie stolz und froh. Und man merkte es ihr an: auch sie hatte bereits das kleine Mädchen in ihr Herz geschlossen, so dass sie uns, falls sich unsere Wege trennten, wohl kaum vermissen würde.
Also blieben Henriette und ich übrig. Was hatte Renate den Kindern im theoretischen Unterricht beigebracht? Kein Lebewesen solle leiden müssen? Also mussten wir zeigen, dass wir litten, als Berta, Charlotte und Isolde in Transportkisten gepackt wurden. Henriette und ich gackerten uns herzzerreißend die Seele aus dem Leib. Tatsächlich kam Renate auf uns zu und fragte:“Wollt ihr bei euren Kameradinnen bleiben? Dann nehmen wir euch auch mit.“
Wilhelm erlaubte es, wahrscheinlich hätte er Renate jeden Wunsch erfüllt.
So fanden wir uns alle am Abend im schuleigenen Hühnerstall wieder.
Das letzte Kapitel „ was lange währt“ folgt am 2.06.2022