Veröffentlicht: 11.12.2021. Rubrik: Kürzestgeschichten
Die Tür
Die Tür
„Psst!“, machte mein Bruder und legte den Zeigefinger auf seinen Mund, dann schaute er wieder durch das Schlüsselloch bei den Nachbarn. Aufgeregt stand ich neben ihm. Mir war nicht klar, was da vor sich ging. Damals war ich erst drei Jahre, mein Bruder vier Jahre älter. „Er ist da, ich kann ihn sehen“, flüsterte er. „Lass mich auch“, wisperte ich zurück, meine Hände fest zusammengedrückt. „Moment noch. Gedulde dich.“ Er schob mich ein Stück zur Seite. Der Geruch von Keksen hing in der kalten Luft, als wenn alle Welt heute gebacken hätte. Unsere Mutter backte viel. Schwere Teige, die sie walkte und knetete, mit ihren kräftigen Armen wendete, bis sie endlich in den Ofen durften. Wir Kinder durften vom Teig naschen, aber nur naschen, mehr nicht. Ein murmeln drang durch die Tür. Das Zappeln konnte ich nicht unterbinden. Teils, weil mir kalt war, ich trug nur meinen roten Winterrock, einen Pullover und die langen Wollstrümpfe. Es wusste ja niemand, dass wir das Haus verlassen hatten. Mein Bruder hatte mir erklärt, dass dies eine geheime Sache wäre und ich keinem etwas erzählen darf, auch nicht unseren beiden älteren Geschwistern. Noch immer stand er in gebückter Haltung vor dem Schlüsselloch und starrte dadurch. Sein blondes Haar, glatt und fein gescheitelt, so war das damals. „Ah“, machte er, ich zupfte ihn an seinem grauen Pullover, der mit den eingestrickten Hirschen drauf, „da ist auch der schwarze Kerl“, sagte er leise und drückte wieder seinen Zeigefinger auf seine Lippen. „Ich will auch gucken!“, zischte ich. Er hob eine Hand. Mein Bruder erhob sich, nahm meine Hand und stellte mich vor die Tür. Meinen Kopf drückte er in Richtung des Schlüssellochs, das reichte nicht, ich musste mich auf die Zehenspitzen stellen. Es war anstrengend zu gucken. Eigentlich sah ich gar nichts. Etwas Rotes vielleicht. Mir war nicht klar, was mein Bruder da so interessantes gesehen hatte in der Wohnung der Nachbarn. Aber er musste etwas gesehen haben, sonst hätte er nicht so lange dagestanden. Folglich veränderte ich meine Positionen, mal etwas höher, mal tiefer. Während ich so rum probierte, öffnete sich die Tür.
Da stand jemand vor mir. Groß, rot und mächtig. Sein Gesicht umrahmt von einem weißen Bart, in der Hand ein riesiger Stab. Ich stand da, wie festgewurzelt, starr und steif, unfähig, mich irgendwie zu bewegen. Dennoch fingerten meine Hände nach meinem Bruder. Sie griffen ins Leere. Mein Mund ging auf, ich wollte schreien, doch kein Ton kam heraus. Mein Atem stockte. Urplötzlich wie aus dem Nichts erschien meine Mutter. Sie hob mich auf, schloss mich in ihre starken Arme und brachte mich nach Hause.
Später kam der Nikolaus auch noch zu uns, er tätschelte mir den Kopf und drohte meinem Bruder mit dem Zeigefinger.