Veröffentlicht: 17.10.2020. Rubrik: Unsortiert
Requiem für eine Zugfahrt
Er saß da, auf einer verfallenen Holzbank, den Instrumentenkoffer auf seinen Knien. Beide Hände umklammerten das Gepäckstück derart, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Der Hut auf seinem Kopf, schien merkwürdig verrutscht, das stand in einem krassen Gegensatz zu seinem ebenmäßigen Gesicht. So starrte er vor sich hin. Ein seltsames Geräusch erregte sein Interesse, dennoch blieb sein Blick nach vorn gerichtet. Es hörte sich an wie Zähneklappern.
»Befanden Sie sich auch in diesem Zug?«, fragte er, ohne seine Haltung zu verändern. Ein Kurzes, »Ja«, kam als Antwort. Das Klappern setzte sich fort.
»Sie werden ja wohl einen Ersatzzug schicken!« Jetzt wandte er sich um. Eine Schramme prangte mitten auf ihrer Stirn, ihr helles Kleid wirkte durch die schmutzigen Flecken geradezu schäbig. Sie sah ihn an. »Sie saßen mir gegenüber. Ich erkenne Sie an Ihrem Hut.«
»Dieser Dreck, dieser ungeheuerliche Dreck! Wo kommt nur ein solcher Staub her? Es ist eine Zumutung, dass man so reisen muss. Sehen Sie sich nur an! Ihre Kleidung ist vollkommen befleckt! Damit nicht genug«, er griff in seine Anzugtasche, zog ein Papiertuch hervor, er reichte es ihr, »Ihr Kopf blutet.« Er deutete mit dem Finger die Richtung. Ungläubig tastete sie danach. Nahm das dargebotene Tuch an, um es gegen die Stirn zu pressen. »Scheint nicht so schlimm zu sein, tut gar nicht weh.« Sie betrachtet das Taschentuch. Er sah sie an. »Frieren Sie?«
»Ich weiß nicht. Mir fehlt jegliches Gefühl. Sie verstehen, die Kopfwunde, ich müsste was spüren.« Bewegungslos starrte er sie an, senkte schließlich seinen Blick zu Boden, drehte seine Füße, die in staubigen Schuhen steckten, hin und her, sodann sah er sie erneut an.
»Sie haben Recht! Schauen Sie, mein linker Fuß steht seitlich ab. Ich vermute er ist gebrochen. Dennoch fühle ich keinen Schmerz. Seltsam.«
Das helle Blau des Himmels wich einem faden Grau. Wolken zogen vorbei, gemächlich, ohne Eile, als sähen sie hinab auf eine Bühne.
Sie wandte sich ihm zu. »Wo wollten Sie denn hin?«
»Frankfurt, nur nach Frankfurt Ist das zu viel verlangt?.«
»Das sollte auch mein Ziel sein. Ob es wohl irgendwo ein Taxi gibt? Wir könnten es uns teilen.«
»Sehen Sie hier vielleicht eins? Sehen Sie außer diesem Dreck etwas?«
»Nein tu ich nicht.« Sie senkte den Kopf. Mit dem Zeigefinger wischte sie flüchtig über die Augen. »Ist da ein Instrument drin?« Sie tippte kurz auf den Instrumentenkoffer.
»Ja, meine Geige. Es ist ein sehr kostbares Musikinstrument.«
»Wenn ich Sie darum Bitte, spielen Sie mir dann ein Stück vor?«
»Was möchten Sie hören?«
»Ich weiß nicht. Was immer Sie wollen.«
Umständlich öffnete er den Koffer, griff nach der Violine, setzte sie an sein Kinn, nahm den Bogen zu Hand.
Sachte strich er eine Seite an, Pause. Er strich eine zweite Seite an, Pause. Langsam glitt der Bogen über die Saiten. Die Töne verließen das Instrument, erhoben sich in die Luft und schwebten zum Firmament. Seine Finger tanzten über den Hals der Geige während der Stock noch immer wie klagend über die Saiten strich. Jede Note klang wie eine leidende zornige Träne.
»Überprüft alles noch einmal. Hebt jedes Stück Blech an! Nicht, dass wir was übersehen. Beeilung! Bringt besser Scheinwerfer mit, wir müssen sämtliche Lücken ausleuchten. Lasst die Hunde vorgehen. Verhaltet Euch leise, damit wir keinen Hinweis überhören!« Der Trupp setzte sich in Bewegung, behutsam, die Schäferhunde schnüffelnd voran. Beißender Rauch lag in der Atemluft. Staub lag auf den Blechteilen. Sie durchkämmten vorsichtig den Platz, leuchteten mit ihren Taschenlampen eifrig alle Zwischenräume aus. Sie hoben Einzelteile langsam an, mit schüttelndem Kopf brachten sie sie beiseite. Kleine Staubwolken stiegen nach oben.
»Bravo!«, sie schlug ihre Hände gegeneinander. »Es ist wunderschön. So traurig, so schön. Ich könnte Ihnen ewig zuhören. Ich kenne dieses Stück. Ist das nicht die Lacrimosa aus Mozarts Requiem?“ Er nickte nur kurz, legte die Violine auf seinen Schoß.
»Treten Sie öffentlich auf? Wie heißen Sie? Ich möchte Sie gerne nochmals hören.«
»Moriani, Leander Moriani.« Er verbeugte sich ein wenig, lüftete den Hut. »Heute wäre ich aufgetreten. In der Oper!
Aber jetzt? Schauen Sie mich an.«
.»Oh je, das ist ja fürchterlich.«, bedauernd schüttelte sie den Kopf. »Meine Name ist übrigens Ellen, Ellen Perl.«
Sie reichten sich die Hände. Ihre Blicke trafen sich. Schmolzen dahin, wie das Eis, auf das die Flamme trifft. Ein lauer Wind wehte durch ihr staubig braunes Haar. Er nahm ihren Geruch wahr, der Duft von Frühling. Sie lächelten sich an. »Es ist schön, das Ihnen meine Musik so gut gefällt.« Er sah auf das Instrument, das jetzt auf dem Kasten ruhte.
»Du scherzt Leander, wem könnte das nicht gefallen?«
»Oh, du kennst meine Nachbarn nicht!« Er lachte ein wenig, sie schloss sich an.
»Klänge, sie erheben sich so flüchtig in die Luft, fast wie Seifenblasen, ich wünschte ich könnte sie festhalten.« Sie schwenkte ihre erhobene Hand leicht hin und her.
»Behalte sie in deinem Herzen, dort klingen sie bis in alle Ewigkeit.«
Die Sonne senkte sich am Horizont. Blutrot färbte sich der Himmel, mit letzter Kraft streckte sie ihre sterbenden Strahlen nach ihnen aus, als wäre sie im Stande die Beiden mit sich hinabzuziehen in das unsterbliche Licht. Er packte die Violine wieder in den Kasten. Sie blickten verträumt in den Sonnenuntergang. Leander lehnte sich zurück, legte einen Arm um sie, Ellen schmiegte ihren Kopf an seine Schulter.
»Ich glaub die Hunde nehmen eine Spur auf!« Der Führer folgte aufmerksam den Suchtieren, die schnüffelnd, an einer massigen Metallwand, die schräg auf dem Boden lag, verharrten. Helfer kamen eilig hinzugelaufen. »Den Kranwagen! Der Kranwagen muss kommen! So schaffen wir die Wand nicht weg! Beeilt euch!« Ein Motor sprang laut an. Langsam, vorsichtig rollte das wuchtige Fahrzeug über die holprigen Trümmer.
»Richtet die Scheinwerfer hier hin! Wir brauchen mehr Licht!« Eifrig hetzten einige Leute durch die Bruchstücke. Taghell erschien der Platz. Der Staub tanzte in den grellen Strahlen. Gemächlich lief der Haken von der Rolle, schleunigst verankert an dem Metall, danach sachte angezogen.
»Du bist so still Ellen, man könnte fast meinen, dass du schläfst.« Zärtlich strich er über ihren Arm. »Nein, nein ich schlafe nicht. Nur schau ist nicht alles wie im Nebel?«
»Es ist dunkel geworden, das ist wahr. Einzig der Mond leuchtet noch für uns.« Er sah sie an. »Fühlst du dich nicht wohl? Du wirkst so blass, beinahe schon durchscheinend.«
»Ach Leander, ich fürchte es Zeit, für mich zu gehen.« Eine Träne bahnte sich den Weg über ihre Wange.
»Wo willst du hin? Ich bin nicht einmal im Bilde darüber, wo wir uns befinden.
«Er nahm den Instrumentenkoffer von seinem Schoß, setzte ihn neben sich auf der Bank ab, sodann umarmte er sie mit beiden Armen. »Ich weiß es nicht, doch bleiben kann ich auch nicht. Wo wohl die Anderen geblieben sind?
Waren wir allein in diesem Waggon?«
Nebelfetzen trieben wild umher, als wollten sie die Welt verschlingen.
»Leuchtet hierher, ich sehe eine Gestalt! Holt die Hunde fort, ich steig hinunter!« Der Hundeführer stieg hinab, die große Metallwand hing am Haken. »Es ist eine Frau!« Er kniete sich auf den Boden, legte zwei Finger an ihren Hals. »Ruft die Sanitäter, ruft den Arzt! Ihr Puls ist schwach!« Drei Männer mit Taschen und Koffer rannten über das Trümmerfeld, ihre Schatten eilten ihnen voraus. Kaum an der Stelle angekommen packten sie ihre Instrumente aus. Schnell doch konzentriert, mit geübten Griffen. Schon berührte das Stethoskop ihre Brust. Das flimmernde Herz pochte im Ohr des Doktors. »Reicht mir den Defibrillator!«
»Ich fürchte ja, wir befanden uns allein im Abteil. Das macht Sinn. Deshalb kommt niemand, uns zu holen. Niemand weiß das wir hier sind. In dieser Einöde. Ich möchte nicht das Du gehst. Doch wenn ich Dich nicht halten kann, möchte ich dich küssen, bevor Du gehst. Darf ich, oder stört es dich?«
»Wie kannst du nur so denken. Darauf warte ich, seit wir hier sitzen! Als wärest Du der letzte Mensch auf dieser
Welt.« Sie lag in seinen Armen, er beugte sich hinab. Sie sahen sich in die Augen, ein letztes Mal, ehe sich ihre Münder trafen. Er roch den Duft des Frühlings, sie hörte das Violinenspiel. Wehmütig hob sich ihre Brust, die Röte schoss in ihre Wangen.
»Fasst mit an, auf drei heben wir sie auf die Bahre! Eins- zwei- drei! Achtung, die Hand! Pass auf die steckt hinter dem Polster. Verdammter Zug!« Erschrocken sah der Mann auf. Er deutete auf das, was ehemals ein Sitzpolster darstellte.
»Augenblick, ich bewege es ein wenig zurück, zieh du ihre Hand heraus. - Nein stopp! Sie hält etwas fest!«
»Wo? Lass sehen! Ach du meine Güte! Da ist noch jemand!«
»Möchtest Du nicht lieber bleiben? Ich stelle es mir einsam vor, ohne deine Anwesenheit. Noch mal und immer möchte ich dich küssen, Deinen Herzschlag hören, als wäre es mein eigener.« Er strich ihr sanft durch das gewellte Haar.
»Es tut mir leid, ich kann nicht bleiben. Wir trafen uns zur falschen Zeit. Ich muss jetzt gehen.« Wieder lief eine Träne über Ihre Wange. Er wischte sie fort.
»Sieh Leander löst sich nicht alles auf? Überkommt dich nicht ebenfalls das Gefühl in einen Strudel gezogen zu werden?«
Blaulicht funkelte wie fremde Sterne über den Platz. Mit Schmutz behaftete Männer, auf deren Stirn Schweißperlen prangten, liefen, langsam durch das Trümmerfeld. Erschöpfung stand in ihren Augen, doch auch ein frohes Leuchten. »Sie lebt!«, rief der Arzt.
»Wo ist Leander?, flüsterte sie mit letzter Kraft.
»Wer ist Leander?, wollte der Sanitäter wissen, er beugte sich tief zu ihr hinab.
»Na der mit mir im Abteil saß, der Mann mit dem Hut und der Violine.« Ellen sah den Sanitäter ängstlich an, der blickte zurück zur Unglückstelle.
»Hier kommt jede Hilfe zu spät.«, betroffen blickten die Helfer auf den zerquetschten Körper, den zersplitterten Geigenkasten und den verknautschten Hut. Es war als würde eine Melodie über allem schweben. Ehrfurchtsvoll setzten sie ihre Helme ab, hielten einen Augenblick inne, um dann mit vereinter Stärke den leblosen Körper zu bergen.