Veröffentlicht: 24.05.2021. Rubrik: Kürzestgeschichten
Ella
Soweit ich mich erinnern kann, hatte Ella, in den `60 Jahren, immer ein Bein und einen Arm in Gips. Den größten Teil ihrer Kindheit verbrachte sie im Krankenhaus. Sie litt unter Osteomyelitis. Da Ella sich nicht fortbewegen konnte, karrten wir Kinder sie in einem alten Kinderwagen durch die Gegend. Die Straße rauf, um die Kurve, dann Richtung Kleingärten. Die Gärten lagen in einer Senke die von einem Bach begrenzt wurde. Man hatte 3 Möglichkeiten hinunter zu kommen. Die 1. war ein breiter seichter Gang der oft von älteren Leuten benutzt wurde, die 2. stand bei Radfahrern hoch im Kurs, da man dann direkt den richtigen Schwung hatte, ohne Anstrengung über die Brücke zu kommen. Die 3. Variante war eigentlich! indiskutabel, da sie nahezu senkrecht hinunterführte. Wollten wir nicht alle schon einmal Rekorde brechen? War Ellas Leben nicht sehr trist und langweilig? Wir schoben sie bis zum Abhang, zerrten den Wagen vor und zurück als könnten wir ihn dadurch etwas beschleunigen. Die Räder knirschten auf dem groben Sand. Dann ein kraftvoller Schups und es ging bergab. „Halte Dich fest Ella!“, schrien wir hinterher ohne darüber nachzudenken, ob das überhaupt möglich ist. Der Wagen rollte und rollte, bergab vorbei an den Gärten über den Gehweg und geradewegs auf den Bach zu. Der Wagen kam ins Stocken und Ella rutschte hinaus und hinein ins Wasser. Wir hinterher. Da saß sie mitten im Wasser und lachte. Wir hatten viel Mühe sie wieder in den Wagen zu bekommen. Heimlich brachten wir sie ins Haus, halfen ihr beim Umziehen und versuchten den Gips zu trocknen.
Als Ella endlich einen Gehgips bekam, konnte sie zu Fuß zum Arzt gehen, der war nur eine Straße weiter. Sie musste regelmäßig zur Kontrolle. „Du kannst mitkommen, dauert nicht lange.“, meinte sie zu mir und ich willigte ein. Wir hatten noch etwas Zeit und waren allein bei ihr zuhause. So gingen wir erst einmal in das Schlafzimmer der Mutter, die Witwe war. Wie magisch zogen uns die diversen Parfümfläschchen an. „Gib mal Deinen Arm“, meinte sie, „den Duft musst Du testen.“ Gesagt getan. Wir fanden noch einen zweiten und einen dritten Duft. Damit nicht genug, schlichen wir uns auch noch in das Zimmer der älteren Schwester. Nach kurzem stöbern wurden wir auch hier fündig. Nicht nur Düfte, sondern auch ein Lippenstift. Uns gefiel es. Und ab zum Doc. Termine gab es nicht, man ging hin und kam der Reihe nach dran. Das Wartezimmer war schon ordentlich voll. Einige starrten uns an, andere sahen verstohlen zu uns rüber. Wir kamen uns sehr toll und erwachsen vor, mit unseren elf Jahren. Vermutlich, so dachten wir, holen die meisten der Patienten nur Rezepte ab, da sich das Wartezimmer zügig leerte und Ella sehr schnell drankam. Am nachfolgenden Abend, meine Familie saß beim Essen erzählte mein Vater. „Stell Dir vor, mein Kollege war gestern beim Arzt. Da kamen zwei Kinder rein die stanken wie eine ganze Parfümerie und hatten die Lippen grell bemalt.“ Er lachte und ich wünschte die Erde würde sich auftun.