Veröffentlicht: 02.07.2023. Rubrik: Total Verrücktes
Ein explosiver Brandbrief
Dieser Beitrag entstand in meiner Schreibgruppe. Wir hatten die Aufgabe, zu einer Postkarte von Peter Gaymann eine Geschichte zu schreiben. Diese Postkarte zeigte ein energisches Huhn, das wildentschlossen einen Federhalter in ein Tintenfäßchen mit der Aufschrift SPRENGSTOFF taucht und einen Briefbogen vollkritzelt.
Ich heiße Emma und bin emanzipiert. Ich will tun und lassen, was mir gefällt. Ich bin einfach nicht bereit, die Wünsche eines Mannes zu erfüllen und meine eigenen zu vernachlässigen.
Mir schwillt regelmäßig der Kamm, wenn ich beobachte, wie unterwürfig sich zum Beispiel Ludmilla ihrem Ludwig gegenüber verhält. Dabei ist Ludwig ein richtiger Schlawiner. Er ist keinesfalls einer einzigen treu, sondern hat bereits versucht, mit fast allen weiblichen Mitgliedern unserer kleinen Gemeinschaft anzubändeln. Und trotzdem wartet Ludmilla sehnsüchtig darauf, dass sie mal wieder an der Reihe ist.
Aber auch einige der anderen Damen erliegen offenbar Ludwigs Charme. Dagegen muss ich etwas tun!
Ich selbst bin völlig immun gegen seine Komplimente und Annäherungsversuche. Er sagte mir einmal, ich sei so hübsch und adrett. Das sagt er vermutlich jeder, aber ich bin nicht darauf hereingefallen, sondern habe, als er mich krallen wollte, einfach zur Seite gerollt. Seitdem beachtet er mich nicht mehr, wahrscheinlich hat er es als Majestätsbeleidigung aufgefasst.
Ich musste unbedingt die explosive Kraft eines Brandbriefes an meine Freundinnen nutzen, um sie vor Ludwig zu warnen. Ich nahm mein mit Sprengstoff gefülltes Tintenfässchen, tauchte den Federhalter hinein und schrieb:
„Liebe Freundinnen,
ihr seid klug und selbstbewusst. Ihr braucht niemanden, der euch sagt, was ihr zu tun und zu lassen habt, weder Ludwig noch jemanden sonst.
Lasst euch von Ludwig und seinen Komplimenten nicht einwickeln. Ihr wisst selbst, wie hübsch und adrett ihr seid.
Ich sage nicht, dass ihr jedem männlichen Geschöpf aus dem Weg zu gehen habt, doch jede Beziehung, die ihr eingeht, sollte auf Gleichberechtigung und gegenseitiger Achtung beruhen. Ich weiß, dass in einem Hühnerhof die Hähne stets in der Minderheit sind. Aber gerade deshalb haben diese kein Recht, uns Hennen zu unterdrücken.
Wir sind die Mehrheit!
Wir sind das Volk!“
„Wir sind die Mehrheit!
Wir sind das Volk!“,
hörte ich die Hühner erst leise, dann immer lauter werdend gackern, nachdem ich ihnen meinen Aufruf vorgelesen hatte. Ich freute mich über diese Resonanz. Das Gegacker der Hennen wurde immer melodischer und klang bald, als würden sie singen. Ich bewegte mich im gleichen Rhythmus, bald taten es mir die anderen nach.
Wir tanzten den ganzen Abend. Es herrschte eine tolle Stimmung.
Ludwig stand abseits des fröhlichen Geschehens, er hatte alle Macht über uns verloren.