Veröffentlicht: 15.10.2023. Rubrik: Menschliches
Wer klopft denn da?
Anfang der 80er Jahre zogen wir ins schöne Leinetal, weil mein Mann Harald und ich in Alfeld eine gut bezahlte Arbeit fanden. Wir hatten eine geräumige und komfortable Wohnung gemietet mit einer wunderbaren Aussicht auf die Leine und einen nach Süden ausgerichteten Balkon.
Unter uns wohnte ein älteres Ehepaar mit ihrer Dalmatinerdame, die sie Bessie nannten. Bessie war ein besonders hübsches Tier, denn ihre zahlreichen schwarzen Punkte wirkten, als seien sie einzeln mit viel Akribie ins weiße Fell gezeichnet worden. Harald tätschelte ihr schönes Fell sehr gern, wenn sie ihm begegnete, denn er mochte sie sehr. Und Bessie lief jedes Mal schnuppernd um ihn herum oder sprang an ihm hoch. Sie holte sich gern ihre Streicheleinheiten bei ihm ab. Einmal sogar Leberwurstbrote und das kam so:
Ich hatte diese Brote in einen Proviantbeutel für Harald gepackt, da er eine längere Dienstreise vor sich hatte. Unten am Hauseingang angekommen, legte er sowohl seine Tasche als auch den Beutel ab, um dort die Zeitung aus dem Briefkasten zu nehmen. Offenbar konzentrierte er sich einen Moment lang auf die Schlagzeilen, so dass er Bessie nicht bemerkte. Erst als er Tasche und Proviantbeutel wieder an sich nehmen wollte, sah er, wie sie sich gerade über eins seiner Leberwurstbrote hermachte. Der leckere Duft der Wurst hatte sie angelockt - still und leise hatte sie ein Brot aus dem Beutel gezogen, was ihr wohl noch angenehmer erschien als sich von ihm tätscheln zu lassen. „Nimm die anderen Brote auch, Bessie, ich schenke sie dir,“ sagte er zu dem Tier und leerte seinen Proviantbeutel ganz. Als endlich auch Herrchen und Frauchen den Hauseingang erreichten, waren sie schockiert und entschuldigten sich für Bessies Gefräßigkeit. Doch Harald erklärte ihnen lautstark, dass er ihr einfach nichts übelnehmen könne.
Er musste so laut mit ihnen reden, denn beide waren schwerhörig. Am frühen Abend lief ihr Fernseher in einer unbarmherzigen Lautstärke. Wir waren froh, wenn die Erkennungsmelodie der Tagesschau erklang, denn danach war es ruhig, da die beiden offenbar früh zu Bett gingen.
Das war aber nicht der einzige ihrer Schwerhörigkeit geschuldete Lärm, den unsere Nachbarn veranstalteten. Bei schönem Wetter saßen sie auf ihrem Balkon und knobelten. Sie knallten den Knobelbecher so fest auf den metallischen Tisch, dass man Tote hätte erwecken können. Anschließend rollten die Würfel laut klickend über die Tischplatte. Da wir tagsüber selten zu Hause waren, konnten wir damit leben.
Doch dann geschah etwas, das wir nicht erwartet hatten:
Mitten in der Nacht ertönte ein lautes Pochen, das so klang, als hämmerten die alten Leute gegen den Heizkörper in ihrem Schlafzimmer. „Jetzt sind sie ganz verrückt geworden,“ sagte Harald eher belustigt als empört. Zwischendurch war es ruhig, aber dann fingen sie erneut zu klopfen an. Wir konnten nicht wieder einschlafen bei diesem Krach, und wenn es mal still war, warteten wir förmlich darauf, dass es wieder losging. Wir stellten uns die beiden vor, wie sie im Nachtgewand abwechselnd den Heizkörper bearbeiteten. Wir fragten uns allerdings, warum sie das taten, selbst wenn es ein Versuch war, die Heizung zu reparieren. Wir konnten es nicht verstehen. Und warum machten sie sich ausgerechnet nachts ans Werk?
Am nächsten Morgen waren wir wie gerädert. Wir hatten kaum ein Auge zugemacht in dieser Nacht. Entsprechend aggressiv war der Unterton in Haralds Stimme, als er unsere Nachbarn auf den nächtlichen Lärm ansprach. Die beiden kamen gerade von ihrem Morgenspaziergang mit Bessie zurück. Sie schauten uns irritiert an und hatten angeblich keine Ahnung. Harald wurde deutlicher: „Sie haben heute Nacht ausgiebig gegen die Heizung geklopft, so dass wir nicht schlafen konnten,“ sagte er streng, während Bessie an ihm hochsprang. Er kraulte sie liebevoll, denn sie konnte ja nichts dafür.
Umso erstaunter war er über Frauchens Erklärung. „Ach so, das müssen Sie entschuldigen. Unsere Bessie hat heute Nacht in unserem Schlafzimmer übernachtet. Wenn sie träumt, schlägt sie mit dem Schwanz an die Heizung. Das war das Klopfen. Wenn es Sie stört, muss Bessie wieder in der Küche schlafen.“
„Nein, nein,“ versicherte Harald schnell, „Bessie darf das. Jetzt, wo wir wissen, dass es Bessie ist, stört es uns nicht mehr.“
Und so war es. Das Klopfen begleitete uns von nun an in einen geruhsamen Schlaf.
Fazit: Es kommt nicht nur darauf an, was stört, sondern auch, wer stört.