Veröffentlicht: 30.09.2023. Rubrik: Aktionen
Erinnerungen
Gabi liebt es, selber Brot zu backen. Besonders wenn ihre achtjährige Enkelin sie besucht, denn auch das Kind hat Freude an dieser Beschäftigung und hilft ihr gern. Sie haben zusammen schon viele Rezepte ausprobiert: mit Hefe, Backsoda oder Sauerteig. Letzteren nennen sie ihr kleines Raubtier, das ständig gefüttert werden will.
Obwohl sie manchmal mit 405er oder 550er Weizenmehl experimentieren, ist ihnen ein kräftiges Vollkornbrot lieber. Gabi hat dafür eine Getreidemühle angeschafft und mahlt damit Dinkel- und Weizenkörner. Beide mögen den würzigen Duft frischen Brotes, der sich stets in der ganzen Wohnung verbreitet.
Das sind die Momente, die Gabi ins Jahr 1966 zurückversetzen. Sie war damals acht Jahre, so alt wie ihre Enkelin heute.
Gabis Großtante Hedwig kam zu Besuch und befand, dass die Großstadtluft im Ruhrgebiet nicht das Richtige für sie sei. „Sie ist so blaß“, sagte Hedwig zu ihren Eltern, „sicherlich würde ihr die reine frische Luft auf dem Land guttun. Sie sollte die Sommerferien bei mir verbringen.“
Hedwig wohnte im Schwäbischen, ein Stück Erde, das ihrer Meinung nach von der Sonne verwöhnt wurde. Und diesen „Platz an der Sonne“ reservierte sie für ihre Großnichte Gabi, die sich auf die Sommerferien im Schwabenland freute. Allerdings verstand sie nicht, warum die Tante so überzeugt war, dass die Sonne dort so viel besser sein sollte als im Kohlenpott, denn es war ja dieselbe, es gab schließlich nur die eine.
„Bist du die Nichte von Tante Hedwig?” wurde sie am Tag nach ihrer Ankunft von einem Jungen in ihrem Alter gefragt. Erstaunt antwortete sie mit einer Gegenfrage: “Ist sie auch deine Tante?“
„Nö, nicht wirklich, aber alle Kinder im Dorf nennen sie so. Sie ist immer sehr nett zu uns.“
Durch diesen Jungen - sein Name war Peter und er war der Sohn eines Landwirts - lernte sie auch andere Kinder kennen. Peters Vater baute hauptsächlich Getreide an. Jetzt in den letzten Tagen dieses Sommers war die Ernte in vollem Gange. Doch ein großes Weizenfeld stand noch. Die Ähren waren so hoch, dass die Kinder kaum zu sehen waren, ajs sie sich ihren Weg durch das Getreide bahnten.
Plötzlich drängte Peter sie in eine andere Richtung.
„Komm, ich zeige dir mein Bett im Kornfeld“, flüsterte er. Gabi verstand nicht, aber sie folgte ihm. Sie kamen an eine Stelle, die er mit Stroh gemütlich ausgepolstert hatte.
Dort lagen sie nun, hörten das leise Rauschen der vollen Ähren, die im Wind zu summen begannen und sich schwer tragend über die beiden Kinder beugten, die genüsslich den Duft des Strohs und des Weizens atmeten, zwischen den Ähren über sich den blauen Himmel erblickten und zu träumen begannen.
War sie damals mit ihren acht Jahren verliebt?
Sie wusste nur, dass sie sich in Peters Gegenwart sehr wohl fühlte und eine große kindliche Sympathie für ihn empfand. Umgekehrt war es wohl ebenso.
Von nun an besuchten sie jeden Tag ihr Bett im Kornfeld. Bis Peters Vater das Weizenfeld mähte, es wurde Zeit, der Sommer lag in den letzten Zügen.
Auch Gabis Ferien gingen zu Ende. Tante Hedwig brachte sie nach Hause. Noch oft musste sie an Peter denken, an diese kindliche Schwärmerei für ihn. Sie wollte auch im nächsten Jahr zur Tante fahren, um ihn wiederzusehen, doch dazu kam es nicht mehr. Tante Hedwig wurde schwer krank. Gabis Eltern wollten sich um sie kümmern und holten sie zu sich ins Ruhrgebiet.
Ironie des Schicksals: Tante Hedwig hatte ihren „Platz an der Sonne“ gefunden, einen Platz, den sie früher verschmäht hätte. Sie musste erfahren, was Gabi bereits als Achtjährige wusste: Es ist dieselbe Sonne, denn wir haben nur eine.
Es gab für die Erwachsenen keinen Grund mehr ins Schwäbische zu reisen. Als Jugendliche und später als junge Frau hatte auch Gabi anderes im Kopf, die Erinnerung an ihren Schwarm aus Kindertagen war verblasst. Sie hatte ihn einfach vergessen.
Lang, lang ist’s her. Tante Hedwig ist inzwischen gestorben und Gabi hat eine Enkeltochter. Doch jetzt im fortgeschrittenen Alter muss sie wieder öfter an Peter denken, besonders wenn das volle Korn durch ihre Getreidemühle rauscht, und sie fragt sich, wie es ihm heute wohl geht.