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geschrieben 2023 von Christelle (Christelle).
Veröffentlicht: 09.09.2023. Rubrik: Aktionen


Inges 50. Geburtstag

In zwei Monaten, also Anfang September, wird Inge 50 Jahre alt.

Sie kann es selbst kaum glauben, schon ein halbes Jahrhundert auf dieser Erde zu sein. Sie weiß, dass sie den Zenit ihres Lebens längst überschritten hat, denn weitere 50 Jahre auf der Welt zu verbringen, ist nur wenigen Menschen vergönnt. Oft ist es auch gar nicht erstrebenswert so alt zu werden, wenn man bettlägerig und pflegebedürftig oder von anderen Krankheiten geplagt wird.

Inge ahnt, es sind die letzten Tage ihres Lebenssommers, spätestens an ihrem 50. Geburtstag beginnt ihre persönliche Herbstzeit. Sie liebt es, Analogien zu verwenden. So teilt sie das Leben in Jahreszeiten ein. Sie weiß nicht mehr, wann ihr Frühling endete, wahrscheinlich ging er still und leise in den Sommer über, der nun in den letzten Zügen liegt.

Für sie ist es ein Grund zu reflektieren, wer und was ihr wichtig ist.

Sie möchte die Freuden des Alltags bewusster wahrnehmen als bisher: die Natur erkunden, Vögel beobachten, ein Picknick im Park genießen, gute Gespräche führen, ins Theater oder ins Kino gehen, in einem tollen Restaurant speisen, eine längere Radtour oder Wanderung unternehmen, im Sommer das Strandbad, im Winter das Hallenbad besuchen und diese Erlebnisse mit guten Freunden teilen. Das hatte sie zwar in der Vergangenheit auch getan, aber jetzt, wo es ihr bewusst geworden ist, dass sie im Herbst ihres Lebens angekommen ist, möchte sie diese Freuden intensiver erleben, denn man weiß ja nie, was das Leben für einen bereit hält. Eines Tages ist es zu spät, weil sie oder die Freunde es nicht mehr können.

Oder einfach verschwinden - wie der Mann, mit dem sie fast 20 Jahre liiert war und der ihr eines Tages mitteilte, er habe seine große Liebe gefunden. Sie hatte sich verhältnismäßig schnell damit abgefunden. Sie wollte nach vorn schauen und nicht zurück, weil sie sich sagte, dass jede Tür, die sich schließe, eine andere öffne. Das war vor zwei Jahren.

Zwei Jahre, wo war nur die Zeit geblieben? Sie hat den Eindruck, die Zeit vergeht umso schneller, je älter sie wird. Manches Mal staunt sie selbst darüber, dass die letzten Treffen oder Telefonate mit Freunden schon so lange zurückliegen.

Alte Freundinnen, die sie seit ihrer Grundschulzeit kennt, hat sie nie ganz aus den Augen verloren. Doch seit ihre Eltern tot sind und ihre Geschwister ziemlich verstreut in der Republik leben, fährt sie kaum noch ins Ruhrgebiet, wo sie aufgewachsen ist, denn auch einige ihrer Schulfreundinnen hat es in alle Himmelsrichtungen verschlagen. Und Barbara, die an Diabetes Typ 1 litt, war bereits vor ein paar Jahren gestorben.

Mit ihren Geschwistern ergeht es ihr ähnlich. Ihr Bruder Fred lebt mit seiner Familie in der Nähe von München, ihre Schwester Marianne war der Liebe wegen nach Deggendorf gezogen, dem Heimatort ihres Mannes, der dort auch beruflich eingebunden ist. Ihre ältere Schwester Gisela hat es nach Magdeburg verschlagen. Sie treffen sich seit vielen Jahren einmal im Jahr zu Weihnachten. Ihr Bruder mietet jedes Jahr ein Ferienhaus mit mehreren Wohnungen im Bayerischen Wald. Bisher waren die Nichten und Neffen dabei, doch die gehen mittlerweile eigene Wege. So sind es nur 6 Personen, die in diesem Jahr zusammen Weihnachten feiern werden: Fred mit seiner Frau Gerda, Marianne mit ihrem Ehemann Franz sowie ihre Schwester Gisela und sie selbst. Da wäre es doch blöd, ein so großes Haus im Bayerischen Wald zu mieten! Ihr geht ein anderer Gedanke durch den Kopf, der aber im Moment noch reifen muss.

Sie möchte sich mehr Zeit lassen können und nicht mehr so hetzen müssen, weder bei privaten Entscheidungen noch im Beruf. Sie möchte lernen, gelassener zu reagieren und sich nicht über jede Kleinigkeit aufzuregen, zum Beispiel über Kollegen, die sich in Konferenzen aufblasen, aber ansonsten wenig Know-how aufweisen, die die Fähigkeiten anderer in Verruf bringen wollen, um selber besser dazustehen. Sie kann diesen Leuten nicht ganz aus dem Weg gehen, denn sie wird noch 15 Jahre berufstätig sein müssen.

In ihrem Job als Sekretärin eines Vorstandsmitglieds kann sie es manchmal nicht lassen, einigen Kollegen ihre Unfähigkeit vor Augen zu führen, und das in einer spöttischen und ironischen Art. Dabei ist sie anderen Kolleginnen und Kollegen gegenüber sehr hilfsbereit, besonders für die Auszubildenden hat sie immer ein offenes Ohr und wird nie müde, ihnen die Betriebsabläufe zu erklären.

Ihr Chef weiß das und schätzt sie auch deshalb sehr, nicht nur wegen ihrer vorzüglichen Arbeit. Er kennt aber auch seine Pappenheimer, die nur vom “Vorzimmerdrachen“ reden, wenn sie gemeint ist.

Soweit Inges Überlegungen. Was macht sie daraus - zwei Monate vor ihrem 50. Geburtstag! Sie lädt alle Menschen, die ihr etwas bedeuten, zu ihrem Geburtstag ein, die Familie inclusive Nichten und Neffen, alte Schulfreundinnen, Freundinnen und Freunde, die später in ihr Leben traten, Kolleginnen und Kollegen, die ihr gut tun. Die meisten sagen zu.

Am Tag des Geburtstages nutzt sie ihre Vorliebe für Metaphern, als sie erzählt, dass ihr Lebenssommer zu Ende gegangen sei. Und wer wisse schon, ob statt des Herbstes wegen einer schweren Erkrankung nicht ganz schnell der Winter vor der Tür stehe. Deshalb freue sie sich über jeden Besuch und jedes Treffen oder Telefonat. Es sei ihr wichtig, sie dies wissen zu lassen. Der Applaus zeigt ihr, dass alle ihre Botschaft verstanden haben.

Was hat sich Inge für Weihnachten überlegt?

Sie bucht nach Absprache mit ihren Geschwistern für drei Wochen eine Gästewohnung, die ihr Vermieter, die Wohnungsgenossenschaft Krefeld (WGK) bereit hält, um ihren Mitgliedern eine günstige Bleibe für deren Besucher anbieten zu können. Diese Wohnung verfügt über zwei Schlafzimmer, so dass Fred und Marianne mit ihren Ehepartnern dort untergebracht werden können. Gisela kann sie im Gästezimmer ihrer eigenen Wohnung beherbergen.

Sie versteht sich gut mit ihrer Schwester Gisela - auch auf so engem Raum. Die anderen vier fühlen sich sehr wohl in der Gästewohnung der WGK. Sie genießen es, ihren Weihnachtsurlaub mal nicht im Bayerischen Wald zu verbringen, sondern den schönen Niederrhein zu erkunden. Es werden drei wundervolle Wochen, in denen sich alle sehr nah sind.

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