Veröffentlicht: 11.03.2025. Rubrik: Persönliches
Ein dumpfer Laut (TRIGGERWARNUNG SUIZID)
--- !!!ACHTUNG, DIESER BEITRAG BEINHALTET THEMEN VON SUIZID, SELBSTVERSTÜMMELUNG UND DEPRESSION!!!---
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Wenn ich mich umbringen wollen würde – was ich nicht will, also keine Panik – wie würde ich es tun? Reines Gedankenexperiment. Kein Hilferuf, keine Romantisierung. Nur logische Schlussfolgerungen.
Schmerz ist raus. Das kann ich gar nicht haben. Also nichts mit Zerschneiden, Erhängen, Ersticken. Und wenn ich mich verbrenne, dann sehe ich nicht mal cool dabei aus. Also schnell und garantiert. Schusswaffe? Ich lebe in Deutschland, keine Chance. Und wenn ich verfehle, dann sehe ich erst recht nicht cool aus. Erhängen? Da muss man mehr recherchieren, als ich bereit bin zu investieren. Außerdem braucht es ein stabiles Seil. Ein richtiger Aufwand, und wenn ich mir für eins keine Mühe machen will, dann wohl für das.
Zug? Hah. Klingt effizient. Bis ich daran denke, dass der Lokführer danach nicht mehr schlafen kann. Ich kann Leuten nicht mal ins Gesicht sagen, wenn ihr Deo zu stark riecht, also werde ich bestimmt niemandem eine Lebenskrise anhängen.
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Diese Gedanken gehen mir gerade durch den Kopf. Drei Stunden, nachdem zwei Meter vor meinen Augen plötzlich mein Nachbar auf dem Boden aufgeschlagen ist. Ich wohne in einem Hochhaus, aber ich rauche nicht oben in der Wohnung, also gehe ich zum Rauchen runter vor die Eingangstür. Normalerweise passiert nicht viel. Man grüßt allerhöchstens mal jemanden der rein, oder raus geht. Ich weiß nicht, wie oft ich Thorsten G. aus dem vierten Stock hierbei begrüßt habe. Meistens nur ein "Hallo". . . jetzt wo ich drüber nachdenke, in meinem letzten Text habe ich gepöhnt über die Frage "Wie geht es Dir?" . . . ich habe ihm kein einziges Mal in meinem Leben diese Frage gestellt. Und nun lag er dort. Aufgeschlagen auf dem Asphalt. Elf Stockwerke über mir war er noch jemand mit Puls.
Ich will ehrlich sein: Es sieht nicht so aus, wie in den Filmen. Kein dramatischer Einschlag, keine orchestrale Musik, kein Moment, in dem alles stillsteht. Kein Schockwellen-Effekt mit verlangsamtem Echo. Es ist eher ein dumpfes Geräusch, als würde jemand einen schweren Sack Kartoffeln vom Balkon schmeißen. Man hört es und denkt, dass es sich falsch anhört, aber nicht falsch genug, um sofort zu verstehen. Zwei Sekunden später fängt das Geschrei an.
Ich verstehe jetzt, warum Filme übertreiben. Weil die Wahrheit nicht cineastisch genug ist. Weil es keine Großaufnahme auf das Gesicht gibt, kein poetisches Blutspritzmuster, das sich in der Regenpfütze spiegelt. Es ist einfach ein Körper, der dort liegt. Zu unbeweglich, um noch ein Mensch zu sein.
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Einer meiner Hauptgedanken, immer wenn ich mal depressiv bin ist, wie ich es verheimlichen kann. Den eigenen Mord verheimlichen, um andere nicht zu belasten. Nach ein paar Stunden mit der Polizei konnte sich so weit darauf geeinigt werden, dass Thorsten von der vierten Etage hoch in die Elfte gefahren ist. Bis vor einigen Jahren konnte man noch auf das Dach, also quasi zwölfte Etage. Aber der Zugang wurde verboten. . . aus Sicherheitsgründen. Was ich nicht wusste, im elften Stock gab es eine Waschküche. Mit einem Fenster. Niemand meiner Nachbarn wusste davon. Nur Thorsten, anscheinend hat er als einzige Person die Waschküche verwendet. Aber oben war keine Wäsche, bedeutet das, dass er es geplant hat? Oder dass der Gedanke einfach dort zum ersten Mal richtig Form angenommen hat? Hat er sich die Zeit im Aufzug genommen, um es sich nochmal durch den Kopf gehen zu lassen? Oder war es ein innerer Automatismus, als hätte er den Weg dorthin schon tausendmal in Gedanken zurückgelegt?
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Ich kann es nicht wissen. Aber verdammt nochmal Thorsten, es sind Kinder im Haus! Kinder! Die genauso hätten runterkommen können wie ich. Nur zwei Sekunden später. Ich frage mich, ob er das in seine Berechnung einbezogen hat. Oder ob er an nichts anderes mehr denken konnte.
Ich wollte mit dieser Geschichte einen Punkt machen. Ich wollte wie sonst einfach darüber schreiben, bis sich das Ganze von selbst ordnet. Aber ich komme hier auf keinen Nenner. Vielleicht gibt es auch keinen.
Ruhe in Frieden, Thorsten. Ich hoffe, es war es wert.

