Veröffentlicht: 15.02.2025. Rubrik: Nachdenkliches
Die Grabrede
Die Trauergemeinde steht am offenen Urnengrab. Herr Wiesenreich ist, plötzlich und unerwartet verstorben, noch bevor er das durchschnittliche Sterbealter erreichen konnte. „Zum Glück“, denkt die Witwe, die mit einer dunklen Sonnenbrille in der ersten Reihe steht. Es muss ja nicht gleich jeder sehen, dass ihr der heutige Anlass keine Träne wert ist. Sie hofft, dass man ihr die nicht verbrauchte Lebenszeit ihres Mannes gutschreiben wird. Mit der Witwenrente, die sie bereits ausgerechnet hat und als Alleinerbin, würde sie es sich richtig gut gehen lassen. Endlich ! Dieser Geizhals hat sich und ihr nichts gönnen wollen. Sparen, sparen, sparen. Sie konnte es nicht mehr hören. Seit 31 Jahren Urlaub in derselben Frühstückspension im Schwarzwald. Wenn sie ihm beim Stadtbummel einen Wintermantel zeigte, der bereits um 50% reduziert war, dann sagte er nur: „Du brauchst doch keinen neuen Mantel. Deiner ist noch einwandfrei.“ „Einwandfrei – und nach 18 Jahren so überholt wie ein Schaffner in Straßenbahnen“, ging es ihr dann durch den Kopf.
Der Trauerredner beginnt und schildert, was für ein fleißiger und beliebter Mensch Herr Wiesenreich war. Die Witwe beißt sich auf die Zunge. „Fleißig, dass ich nicht lache. Keinen Finger hat er Zuhause krumm gemacht. Er war ja auch zu nichts zu gebrauchen. Und beliebt – ha, er war unbeliebter wie Fußpilz. Die Leute wechselten die Straßenseite, wenn er ihnen entgegenkam, weil er an Allem und Jedem etwas zu kritisieren hatte. Überall hat er sich eingemischt. Seine Spezialität waren Dinge, die ihn nichts, absolut gar nichts angingen. So viel zu „beliebt.“
„… ein fürsorglicher Familienmensch,“ hört sie, wie in einem Tunnel. “ Von wem redet der eigentlich ? Meinem Mann? Für den gab es weder Familie, noch sonst eine andere Kreatur, die ihm etwas bedeutet hat. In seinem Universum und Wortschatz gab es nur „ich“. Familienmensch, so ein Schmarren.“
Die Trauergemeinde stellt sich auf . Einer nach dem anderen nimmt Abschied und kondoliert der Witwe. „Mein Beileid. Du musst jetzt ganz stark sein,“ säuselt die Nachbarin. „Er war ein wunderbarer Mensch“, heuchelt die Bäckersfrau. „Ich glaub’s nicht. Ein wunderbarer Mensch, der ihr eine Tüte Brötchen vor die Füße geworfen hat, weil er den Preis als Wucher empfand. Beim letzten Mal haben sie nur die Hälfte gekostet, waren seine Worte. Das letzte Mal, dass er selbst einkaufen war, lag aber auch schon 20 Jahre zurück.“
Der Einzige, der Grund zum Trauern hat, ist Rechtsanwalt Schnöder. Der sollte die Witwe im Falle einer Scheidung vertreten und hatte sie bereits unverbindlich beraten. Er nickt der Witwe stumm zu und geht weiter.
Stumm, das wären auch die anderen besser geblieben.

