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3xhab ich gern gelesen
geschrieben 2024 von Kargut (Kargut).
Veröffentlicht: 01.12.2024. Rubrik: Persönliches


Die Stade Zeit

Wir schreiben den 1. Dezember und angeblich befinden wir uns in der „Staden Zeit“. So ein Quatsch ! Als ob es in den letzten 50 Jahren noch „Stade Zeiten“ gegeben hätte. Im Radio ertönt – gefühlt zum 95. Mal - „Last Christmas“. Die Innenstädte sind belagert mit Weihnachtsmärkten und die Luft geschwängert von Glühwein- und Bratwurstgeruch. Die Fensterbeleuchtung der Nachbarn gleicht der eines Bordells: Lila – Rot – Lila – Rot, immer im Wechsel, spiegeln sich die kleinen Lichter in den Scheiben. In der Wohnung daneben ist es auch nicht besser – gelb – weiß – gelb – weiß – an – aus – an – aus. Schrecklich ! Ich ziehe die Vorhänge vor, um den Lichterterror aus meinem Sichtfeld zu verbannen.

Eine Kollegin ruft mich an. Sie klingt verzweifelt. „Stell Dir vor, ich hab‘ noch immer kein Geschenk für meine Schwiegermutter. Bei meiner Schwester dachte ich an ein Buch. Kannst Du mir etwas empfehlen“? Ich überlege und bevor ich antworten kann fragt sie flehend „Was schenkst Du denn so ?“ Hier muss ich nicht lange überlegen:“ Ich schenke nichts“. „Aber das kannst Du doch nicht machen ! Das geht doch nicht !“ kommt prompt die Antwort der Anruferin. Ihre Stimme überschlägt sich, als hätte ich ein Nacktshooting auf dem Viktualienmarkt vorgeschlagen. „Warum denn nicht ? Wenn ich etwas Nettes finde, womit ich eine Freude machen, dann kaufe und verschenke ich es. Egal ob Weihnachten, Geburtstag oder Ostern. Einfach so. Schweigen, am anderen Ende der Leitung.

Die Anruferin weiß nichts von meiner posttraumatischen „Weihnachtsstörung“ aus Kindertagen. Als die ohnehin schon langen Arbeitstage, in der Metzgerei meiner Eltern, nochmals um Stunden verlängert wurden. Kalte Platten, Partyservice, vorbestellte Fleisch- und Wurstpakete, da lagen die Nerven blank. Die Ansprüche der Kunden waren hoch, die Toleranzschwelle waberte nur knapp über dem Nullpunkt. Das übertrug sich ganz besonders auf meine Mutter. Der Geduldsfaden wurde dünn und dünner. Zum Zerreißen reichten Kleinigkeiten.
Unser Heiligabend startete um 7 Uhr. Hinter verschlossenen Rollläden wurde die Theke eingeräumt und Bestellungen verpackt. Um 7.45h klopft der erste Kunde, obwohl offiziell erst um 8h geöffnet wird. Zu dem zweiten Klopfen ertönt noch ein lautes Rufen: „Seid ihr schon da ?“ Dumme Frage. Natürlich wusste König Kunde, dass jemand da war – schließlich stand das Auto im Hof. Ignorieren zwecklos. Laden öffnen, Augen zu und durch. Der Laden füllt sich, einige Kunden stehen bereits im Hof in der Warteschlange. Daran sollte sich auch bis 12h nichts ändern. In der Warteschlange befanden sich – alle Jahre wieder – Personen, die man sonst im ganzen Jahr nicht zu sehen bekommt. Ihre Lobeshymnen von der guten Wurst und den günstigen Fleischpreisen im Diskounter waren aber bis zu meinen Eltern vorgedrungen. Eigentlich wäre um 13h Ladenschluss, nach dem das Geschäft und alle Maschinen gründlich geputzt werden müssen. Aber meine Mutter stellt um 12.55h fest:“ Wir brauchen noch gar nicht anfangen mit Putzen, Frau Lübke war noch nicht da.“ Kaum ausgesprochen, schwebt Frau Lübke breit grinsend in den Laden. „Ich hätte gerne 85 Gramm Aufschnitt, aber ohne Gelbwurst. Dann noch 110 Gramm Tartar und ein Filetsteak.“ „Filetsteak ist schon seit 10Uhr aus“, antwortet meine Mutter und versucht zumindest einen Hauch des Bedauerns anzudeuten. Weltuntergang bei Frau Lübke. „Ja was mach ich denn jetzt ? Dann muss ich ja meinen gesamten Essensplan umstellen. Was gibt es noch ?“ „Kotelette“, antwortet meine Mutter kurz. Frau Lübke bekommt Schnappatmung. Mein Vater flüchtet ins Kühlhaus. Er kann in solchen Momenten weder sich noch seine direkten Kommentare zurückhalten. Meine Mutter schaut auf die Uhr und ich frage demonstrativ, ob ich schon mit Putzen anfangen kann. Um 13.15h ist nicht nur Frau Lübke sondern auch das komplette Ladenpersonal bedient. Schnell die Rollläden runter und Klingel abstellen. Alle Jahre wieder.
Während das Dorf bereits wie ausgestorben wirkt und seine Bewohner den Christbaum oder sich selbst schmücken, haben wir noch eine gute Stunde mit Putzen und Aufräumen zu tun – natürlich ohne Mittagspause – dazu blieb keine Zeit.
In einem großen Wäschekorb befinden sich bereits alle Vorbestellungen, die jetzt noch zu den Kunden „frei Haus“ geliefert werden müssen. Die Kleinen Pakete bringe ich, wie ein DHL-Bote, zur Tür, denn an diesem Tag ist ein großzügiges Trinkgeld garantiert – man könnte es auch Schmerzensgeld nennen.
Irgendwann nach 16h – geschafft ! Ankunft zu Hause. Während ich bade, schmückt Mutter den Baum im Wohnzimmer und legt die Geschenkpakete darunter. An der Wohnzimmertür prangt ein imaginäres, aber gut lesbares Schild für mich: „Betreten verboten !“ Während ich in meinem Zimmer warte, kann ich die alljährliche Debatte zwischen meinen Eltern aus dem Bad mitanhören:“ Warum muss Deine Mutter schon wieder, an Heilig Abend, zu uns kommen ? Warum kann sie nicht einmal zu Deinem Bruder gehen ? Warum holt Deine Schwester sie nicht ? Warum, warum, warum - frei nach dem Motto :“ Last uns froh und munter sein …“ , oder so ähnlich.
Essen vorbereiten, Tisch decken, Oma holen, mit langen Gesichtern und einem Puls von ca. 200 gute Miene machen, Oma nach Hause bringen. „Oh, Du Fröhliche“.
Erster Weihnachtsfeiertag. Mehrere Familien wollen ein entspanntes Weihnachtsfest, im Kreise ihrer Lieben und lassen sich das Essen bringen. Essen, mit dessen Zubereitung meine Mutter gleich nach dem Frühstück beginnen muss – denn König Kunde will pünktlich speisen. Same procedure as every year.
Zweiter Weihnachtsfeiertag mit ähnlichem Programm wie am Vortag. Zur Abwechslung ist es aber kein warmes Essen zum Mittag, sondern Kalte Platten am Abend. Kalt, eiskalt ist auch die Stimmung bei uns zu Hause. Ich verlasse mein Zimmer nur noch, wenn es absolut unvermeidbar ist. Ich mag Weihnachten nicht! Daran ändern auch die Geschenke nichts.

Bis heute konnte ich mich nicht mehr mit Weihnachten und seinen Bräuchen anfreunden. Keine Deko, kein Baum, keine Geschenke, kein Stress. Nur Stollen, Lebkuchen und Plätzchen – auf die freue ich mich. Alle Jahre wieder.

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von Bad Letters am 02.12.2024:
Kommentar gern gelesen.
Wie immer im Leben Kargut, gibt es bei jedem Ereignis Gewinner und Verlierer. An der Theke gehört man zu Weihnachten wohl zu den Verlierern. Das kann sich dann in heftigen Fällen auch schon zu einer posttraumatischen Störung ausweiten.

MfG
Bad Letters


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