Veröffentlicht: 28.11.2024. Rubrik: Persönliches
Man kann sich seine Familie nicht aussuchen
Was passiert, wenn man mit 10 Jahren den eigenen Vater an der Haustür abweisen muss, als er aus dem Krieg nach Hause kommt und die eigene Mutter sich bereits mit einem anderen Mann getröstet hat ? Wo sucht man nach den eigenen Wurzeln, wenn man rein gar nichts von der Familie des Vaters weiß und sich im eigenen Zuhause fremd fühlt ?
Es ist das Schicksal meiner Mutter, die mit 14 Jahren, eine Ausbildung in einer Metzgerei begann. Kunden kamen, Kunden gingen. Einige, aber nicht alle, kannte sie mit Namen. Oft füllte die Chefin die Wissenslücken des Lehrmädchens, sobald die Kundschaft den Laden verlassen hatte: „Das war Frau Ludewig“ oder „das war die Frau von Lehrer so und so. Nachdem meine Mutter wieder einmal eine Dame bedient hatte, kam – wie so oft die Frage:“ Weißt Du wer das war ?“ „Nein“, kam die knappe, schüchterne Antwort. „Das war Deine Oma. Die Mutter von Deinem Vater.“
Wusste ihre Großmutter gar nichts von ihrer Existenz ? Warum musste sie ihre Oma auf diese Art und Weise kennenlernen ? Ihre Mutter wollte ihr diese, vollkommen legitime, Frage nicht beantworten. Ihr Vater konnte es nicht, weil er die Stadt verlassen hatte. Mit dem „Wohin“ verhielt es sich ähnlich, wie mit dem „warum“.
Inzwischen waren zu ihren 3 Geschwistern, noch 3 Halbschwestern dazugekommen. Mit Ausnahme von meiner Mutter und ihren Bruder, nannten alle Kinder den neuen Mann im Hause „Vaddi“. Bei meiner Mutter und ihrem Bruder wollte dieses Wort partout nicht über die Lippen. Dazu kamen räumliche Enge, Geldnot und Spannungen
die für meine 17 jährige Mutter unerträglich wurden. Sie packte ihre Koffer und ging nach Bad Homburg, wo sie meinen Vater kennenlernte.
Der Kontakt zu ihrer Familie in Bremerhaven reduzierte sich auf ein Minimum. Erst die Silberne Hochzeit ihrer Mutter mit dem Stiefvater bot, nach langer Zeit, Anlass für einen Besuch. Mit gestiegenem Alkoholkonsum lockerten sich die Stimmung und auch die Zungen und so kam es, dass Opa Willi, der eigentlich gar nicht mein Opa war, stolz zu meinem Vater sagte:“ Du kannst froh sein, dass ich damals Deine Frau aus dem Haus geekelt habe, sonst hättest Du sie nie kennengelernt.“
Es waren Worte wie Peitschenhiebe, die den Wunsch, den leiblichen Vater wieder zu finden, bei meiner Mutter neu erweckten. 40 Jahre, nach dem letzten Treffen, wurden die Bemühungen von ihr und ihrem Bruder belohnt. Der Vater lebte. Ein tränenreiches Telefongespräch löschte alle Zweifel. Es handelte sich um keine, zufällige Namensgleichheit - es war ihr Vater.
Wir besuchten ihn und merkten schnell, dass seine Kinder aus 2. Ehe die Freude des Vaters nicht wirklich teilen konnten. Die Stimmung war insgesamt höflich aber unterkühlt. Wen wundert es - eine Lücke von 40 Jahren in Beider Leben ließ sich nicht an einem Nachmittag schließen. Opa war vom Alter gezeichnet und was niemand ahnen konnte, es war das letzte Wiedersehen zwischen ihm und meiner Mutter.
Vieles, zu vieles blieb unausgesprochen. Wie geheime Botschaften, die in einem versiegelten Briefumschlag gehütet wurden, nahm Opa sie mit ins Grab. Wer waren seine Eltern ? Warum kannten sie ihre Enkel nicht ? Was war der Grund für einen Haftbefehl, der in jungen Jahren gegen ihn erlassen wurde ? Die Liste der Fragen ist lang und wird nie mehr abgearbeitet werden. Ich schließe das Kapitel und sage: “Ruhet in Frieden“.