Veröffentlicht: 15.10.2024. Rubrik: Satirisches
Hänsel und Gretel
Hänsel und Gretel gingen durch den Wald. Ach ne, das gibt’s ja heute nicht mehr. Also nochmal von vorne. Hänsel und Gretel wurden im Lastenfahrrad von Mutti durch die Gegend gekarrt. Ist ja schon gut. Auch das ist überholt. Wer nennt denn seine Kinder heute noch Hänsel und Gretel. Also ändern wir die Namen in Olivia und Linus, die ausgestattet mit Integralhelm und Knieschützern, von Mutti mit Dreipunktgurten in ihrer High-Tech Fahrradbox gesichert, startbereit für ihren gemeinsamen Ausflug waren. Mutti hatte eine Route ausgesucht, bei der der Weg durchweg befestigt ist, um sicherzustellen, dass der Nachwuchs keinen Erschütterungen ausgesetzt wird und möglicherweise einen blauen Fleck bekommt. Die Kleinen sind ja so sensibel, da kann man gar nicht genug aufpassen.
Damit der Ausflug auch einen Lerneffekt hat, erklärt Mutti:“ Schaut mal, das sind Kühe. Die machen Milch. Und da vorne, wo die vielen Bäume sind, das ist ein Wald. Die Bäume, die kann man liebhaben und umarmen. Das ist ganz gesund.“ „Oh toll. Ich will auch einen Baum liebhaben“, antworten Olivia und Linus im Chor. Mutti hält an, kettet das Lastenrad an eine Bank und fragt die Kinder, ob es ok ist, wenn sie den Rest des Weges, bis zum Wald, auf Schusters Rappen zurückzulegen. Olivia und Linus werden von Mutti immer erst gefragt, ob etwas für sie ok ist. "Na gut", antwortet der Nachwuchs mit missmutigem Unterton, denn die Entfernung bis zum Wald betrug mindestens noch 300 Meter. Fast eine Zumutung, aber weniger anstrengend als eine Grundsatzdiskussion mit Mutti.
Bei der ersten Baumgruppe wurden Linus und Olivia gebeten “ So, und jetzt fassen wir uns an den Händen und bilden einen Kreis um den Baum. Und dann sagen wir ihm, dass wir ihn gern haben und bedanken uns dafür, dass er die Luft, die wir atmen, reinigt“. Die Kinder folgten den Anweisungen von Mutti und legten ihre Wangen an den Stamm, als wäre es ein Kuscheltier. Nach 10 Minuten zogen sie weiter.
Anders als Hänsel und Gretel hatten die Kinder keinen Kanten altes Brot, sondern einen Bioriegel Superfoot, an dem sie knabberten, denn auch das hatte sich im Laufe der Zeit geändert. Und anders als im Märchen, wurden diese Kinder nicht im Wald ausgesetzt, sondern von ihrer Helikoptermutter keine Sekunde aus den Augen gelassen. Schließlich könnte ja hinter einem Busch eine Hexe lauern.
Zurück beim Lastenfahrrad sinnierte Mutti: „Kinder, wie die Zeit geht. Nächstes Jahr kommt Linus ins Gymnasium und Olivia ist auch schon 11. Aber so lange sie noch so klein sind ….