Veröffentlicht: 26.04.2019. Rubrik: Grusel und Horror
Das Haus mit den Löwenköpfen
Jessica wartete auf den Bus. Die Gespräche mit zwei wichtigen Kunden waren erfolgreich verlaufen. Da zu Hause niemand auf sie wartete, hätte sie ohne weiteres noch etwas in Neustadt bleiben können, aber dazu hatte sie keine Lust. Obwohl sie hier geboren war und die ersten zweieinhalb Jahre hier verbracht hatte, fühlte sie keine emotionale Verbindung zu dem Ort.
Wie sollte sie auch? Der Anfang ihres Lebens lag für sie im Dunkeln. Sie wusste lediglich, dass ihre Eltern Ulrike und Thomas Müller hießen und sie zur Adoption freigegeben hatten, als sie zweieinhalb Jahre alt war. Was danach aus ihnen geworden war, war ihr unbekannt. Sie war in ein Kinderheim gekommen, aber nie adoptiert worden. „Du bist zu alt“, hatte jemand gesagt, „die Leute wollen Neugeborene.“ Hin und wieder bemerkte Jessica allerdings, dass auch ältere Kinder aus ihrem Heim neue Eltern fanden. Aus Selbstschutz grübelte sie nicht darüber nach, sondern nahm es hin und versuchte, das Beste aus ihrem Leben zu machen. Beruflich gelang ihr das auch. Im Privatleben dagegen war sie irgendwann zu dem Schluss gekommen, dass sie beziehungsunfähig war. Auch hieraus machte sie schließlich das Beste und blieb Single.
Gelangweilt blickte Jessica um sich. Aus dieser Stadt stammte sie also, aber sie wusste nicht einmal, wo sie damals mit ihren Eltern gewohnt hatte. Ein einziges Foto hatte sie von dem Haus. Es war ein Altbau gewesen mit zwei steinernen Löwenköpfen links und rechts des Eingangs.
Plötzlich blieb ihr fast das Herz stehen. Dort drüben, auf der anderen Seite der Straße, war eine Haustür mit Löwenköpfen!
Der Bus war ihr jetzt gleichgültig. Sie überquerte die Straße und ging zu dem Haus. Als sie es gerade erreicht hatte, öffnete sich die Tür. Eine alte Dame trat heraus. Blitzschnell rechnete Jessica aus, dass die Dame, falls sie schon lange hier lebte, sie als Kleinkind gekannt haben könnte. „Verzeihung“, sagte sie, „kannten Sie Ulrike und Thomas Müller, die mit ihrer kleinen Tochter vor rund dreißig Jahren hier wohnten?“
Überrascht schaute die Dame sie an. „Ja, natürlich. Das war ja eine schlimme Sache damals mit den Kindern.“
Jessica war verwirrt. Mit den Kindern? Im Plural? „Wissen Sie noch, wie alt die Kinder waren und wie sie hießen?“
„Also, das Mädchen hieß Jessica. Als sie zwei Jahre alt war, kam der kleine Timo. Und fünf Monate später passierte dann ja das Schreckliche. Wo die Eltern danach hingezogen sind, weiß ich nicht. Sie wollten nur weg.“
Obwohl Jessicas innere Stimme ihr riet, nicht weiter zu fragen, tat sie es. „Was für Schreckliches ist denn passiert?“
„Wissen Sie das nicht?“, fragte die alte Dame. „Das Mädchen hat seinen kleinen Bruder aus Eifersucht erwürgt.“
*
Als Jessica die Augen öffnete, lag sie in einem Krankenhausbett. Eine etwa vierzigjährige Ärztin, die laut ihrem Namensschild Dr. N. Hoffmann hieß, beugte sich über sie. „Schön, dass Sie wieder wach sind, Frau Müller. Sie sind ohnmächtig geworden, aber zum Glück haben Sie sich bei dem Sturz nur leicht verletzt. Es wurde sofort ein Rettungswagen bestellt, und so kamen Sie hierhin. In Ihrer Tasche waren Ihr Ausweis und Ihre Krankenkassenkarte, sodass wir gleich wussten, wie Sie heißen.“
Jessica erinnerte sich an das, wodurch sie ohnmächtig geworden war, und brach in Tränen aus. „Haben Sie ein Problem?“, fragte die Ärztin einfühlsam. „Sie können es mir ruhig sagen, ich habe Schweigepflicht.“
Immer wieder von Schluchzen unterbrochen, berichtete Jessica ihr alles und schloss mit den Worten: „Jetzt weiß ich auch, warum ich nicht adoptiert wurde. Mir hat man zwar nie etwas von der Tat gesagt, aber den Adoptions-Interessenten natürlich doch. Und niemand holt sich eine Mörderin ins Haus.“
„Sie sind keine Mörderin“, widersprach die Ärztin.
„Ich weiß, Kleinkinder sind schuldunfähig –“
„Stimmt, aber das meinte ich gar nicht. Sie sind keine Mörderin, weil Sie Ihren Bruder nicht umgebracht haben.“
Jessica starrte sie an. „Aber die Dame sagte doch…“
„Ja, das war die offizielle Version. Meine Mutter, die leider vor zwei Jahren gestorben ist, glaubte keine Sekunde daran.“
„Wer soll es denn sonst gewesen sein?“
„Ihre Eltern. Meine Mutter hat der Polizei ihren Verdacht mitgeteilt, aber leider glaubte ihr niemand.“
Die Ärztin zog einen Stuhl heran, setzte sich und berichtete Jessica alles, woran sie sich erinnerte.
„Mama hatte sich schon von Anfang an darüber gewundert, dass die Müllers schon bald nach Timos Geburt überall herumerzählten, wie eifersüchtig seine Schwester sei. Man müsse Angst haben, die beiden miteinander allein zu lassen. Dann passierte Folgendes: Mama ging an dem Garten des Hauses, in dem Sie wohnten, vorbei und bemerkte, dass der Sichtschutz an einer Stelle durchlässig geworden war. Sie blickte in den Garten und sah, wie Sie völlig entspannt neben Timos Kinderwagen saßen, ohne Erwachsene in der Nähe. Als dann die Schreckensnachricht kam, sagte Mama sofort: ‚Das waren die Eltern! Sie haben ihre Tochter als Eifersuchtsmonster dargestellt, damit jeder glaubt, sie hätte Timo umgebracht.‘“
„Aber warum?“, fragte Jessica erschüttert.
„Mama vermutete, dass die beiden sich nach der Geburt des zweiten Kindes überfordert fühlten und sich ein Leben ohne Kinder wünschten. Da hätten sie einen teuflischen Plan ausgeheckt. Das jüngere Kind sollte sterben und das ältere sollte für dessen Tod verantwortlich gemacht werden, damit man es weggeben konnte und dann in ein neues Leben starten konnte. Wahrscheinlich hätten sie den Kleinen mit Handschuhen erwürgt und anschließend die Finger seiner schlafenden Schwester auf die Würgemale gelegt, wegen der Fingerabdrücke.“
„Glauben Sie, dass Ihre Mutter recht hatte? Wenn ja, dann könnte man die beiden doch noch heute anzeigen! Mord verjährt nicht!“
„Das ist nicht mehr nötig“, antwortete die Ärztin. „Die beiden sind tot. Etwa ein Jahr später sind sie irgendwo in Südeuropa mit ihrem Auto gegen einen Baum gefahren. Ob Unfall oder Suizid, wurde nie geklärt.“
In Jessica mischte sich Erleichterung mit Wut. „Wenn es Suizid war, dann hätten sie zumindest in einem Abschiedsbrief alles gestehen sollen! Was ist überhaupt mit dem Erbe? Müsste ich nicht die Alleinerbin sein?“
„Sie hatten nur Schulden hinterlassen.“
Jessica seufzte. „Ich bin Ihnen sehr dankbar, Frau Doktor, dass Sie mir das alles gesagt haben. Warum hat Ihre Mutter sich eigentlich so sehr für den Fall interessiert?“
Zum ersten Mal zögerte die Ärztin, bevor sie antwortete. „Die Tragödie… ging ihr irgendwie nahe. Sie hätte Sie gern adoptiert, aber das ging nicht, weil sie alleinstehend und berufstätig war und schon ein leibliches Kind hatte. Meinen Erzeuger hatte sie zum Teufel gejagt, als sie seinen Charakter durchschaute. Er heiratete dann später eine andere.“
Dann riss sie sich zusammen: „Ich erzähle dir lieber alles, Jessica. Mein Erzeuger war dein Vater. Wir sind Halbschwestern. Ich heiße Nadja.“
Weinend fielen sich die beiden in die Arme, und Jessica dachte: „Einen solchen Tag gibt’s wohl nur einmal im Leben! Zuerst erfuhr ich, dass ich als Mörderin galt, und jetzt habe ich eine Schwester gefunden. Und alles, weil ich in Neustadt Kunden aufsuchen musste und das Haus mit den Löwenköpfen sah!“