Veröffentlicht: 05.04.2019. Rubrik: Märchenhaftes
Der Ring der Witwe
Obwohl ihr Mann schon vor sieben Jahren verstorben war, trug Margret weiterhin ihren Ehering. „Mit Ring ist man als Frau sicherer, besonders auf Reisen.“
Daher war Margrets Tochter Heike äußerst erstaunt, als sie wie jede Woche bei ihrer Mutter vorbeischaute und entdeckte, dass der Ehering an deren Hand fehlte. Zuerst sagte Heike nichts, aber ihre Neugier wurde immer größer. Ob es einen neuen Mann im Leben der Mutter gab?
Schließlich hielt sie es nicht länger aus. „Mama, wo hast du denn deinen Ring?“
Margret lächelte etwas verlegen, und Heike war schon auf alles gefasst – aber nicht auf das, was sie dann zu hören bekam.
„Ich hatte ihn auf das Fensterbrett gelegt, weil ich waschen musste. Leider stand das Fenster offen. Plötzlich sah ich, wie eine Krähe sich den Ring schnappte und mit ihm zu ihrem Nest flog. Da oben im Baum ist er jetzt.“
„Mama!“ Heike war schockiert, aber nicht wegen des Rings, sondern weil sie befürchtete, ihre Mutter sei dement geworden und fantasiere.
Margret schmunzelte. „Du glaubst mir wohl nicht? Doch, es war so. Rabenvögel klauen gern glänzende Sachen. Am häufigsten hört man das von Elstern, aber auch Krähen tun das. Ich dachte früher, diese pechschwarzen Vögel seien Raben, denn im Osten, wo ich herkomme, sind die Krähen grau-schwarz. Aber hier westlich der Elbe sind sie –“
Heike verlor die Nerven. „Mama, bitte keinen Vortrag über Vogelkunde! Es geht um den Ring! Wenn er tatsächlich da oben im Nest ist, muss man das Nest eben runterholen.“
„Ja“, nickte Margret, „aber erst, wenn die Jungen flügge sind. Sonst würden sie sterben.“
Ihre Tochter starrte sie an. „Sind doch nur Krähen!“
„Pfui!“ Der Blick und der Tonfall ihrer Mutter ließen Heike zurückrudern. „Sorry. Aber dann liegt der Ring doch noch wochenlang im Vogeldreck.“
„So dreckig ist ein Vogelnest gar nicht. Trotzdem würde ich den Ring natürlich gründlich desinfizieren und ihn danach noch mal vom Juwelier professionell säubern lassen. Dann ist er wie neu.“
Obwohl Heike am Verstand ihrer Mutter zweifelte und sie immer wieder aufforderte, endlich das Nest herunterholen zu lassen, wartete Margret ab. Erst als drei pechschwarze Jungkrähen mit ihren Eltern auf dem Rasen umherstolzierten und von einem Baum zum anderen flogen, bestellte sie eine Firma, die das Nest entfernte. Margret stand unten und konnte es kaum erwarten, hineinzuschauen. Tatsächlich, dort lag ihr Ehering!
*
Eine Woche später trug sie das desinfizierte und professionell gesäuberte Schmuckstück zum ersten Mal wieder, als ihr Telefon schellte. Es war ihre Freundin Elfriede, die drei Straßen entfernt wohnte. „Möchtest du mal vorbeikommen, Margret? Ich habe gerade deinen Lieblingskuchen gebacken…“
„Prima, Elfi, dann kann ich dir sofort eine unglaubliche Geschichte erzählen.“ Margret machte sich voller Vorfreude auf den Weg, doch schon bald erstarrte sie. Der Kampfhund aus dem Haus am Ende der Straße war ausgebüxt und kam ihr zähnefletschend entgegen. Sie war nicht mehr gut genug zu Fuß, um wegrennen zu können. Gelähmt vor Schreck, unfähig zu denken, stand sie auf dem Bürgersteig.
Nur noch einen Meter war der Hund von ihr entfernt, als er plötzlich jaulend innehielt. Wie aus dem Nichts waren drei pechschwarze Vögel herabgeschossen, die ihn unter Kreischen und Flügelschlagen zum Ende der Straße zurückjagten und nicht von ihm abließen, bis sein entsetzter Besitzer ihn wieder in Empfang genommen hatte.